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Das Merkbuch

Titel: Das Merkbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Rutschky
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nützt. Marianne tat sich in London mit Istvan zusammen, einem Flüchtling aus Sowjetisch-Ungarn.
    Noch ein Roman. Mädchen vom Lande lernt standes- und geschlechtsgemäß Krankenschwester und flieht vor der Familie nach Babylon. Sie schändet ihr Ansehen und das der Familie, indem sie den weiblich-ehrenhaften Beruf aufgibt und einen leicht anrüchigen in der Schönheitsbranche annimmt – einer Branche, die in Deutschland noch weitgehend fehlt und die man deshalb für ein Indiz der westlichen Dekadenz hält, der wir nicht unterliegen. Niemand weiß, dass dies die Zukunft ist. Und in der Zukunft wird häufig das Mädchen vom Lande einen exilierten Ausländer für eine wilde Ehe, wie das damals hieß, erwählen.
    Was den Sohn betrifft, so bezeichnen in der Zukunft Namen wie Morpeth und Newbiggin heilige Orte, auf ewig sie selbst, da man dort nie wieder war. York, Durham, Edinburgh zu besuchen läge immerhin touristisch nahe und bringt sie näher.

    Am 5. April fügt der Sohn seiner Tagesnotiz – in Bleistift geschrieben – mit Tinte hinzu: Most interesting conversation und gibt den Worten eine Eins mit Kringel bei. Sie verweist auf ein Zettelchen, das mit anderen zusammen in dem Gefach steckt, auf dessen Außenseite Baur & Horn, der Spender des Kalenders, seinen Namen in Prägedruck hinterlassen hat. Mr. Hill, ein Lehrer an der Bedlington Grammar School – von dem der Sohn sich, wie er verzeichnet, am 24. April extra verabschiedet – ist der Gesprächspartner.

    He thinks, that it will not be necessary for a country to have a tradition and arrangements by the history. He thinks, that we are luckier, being able to form our future, having passed all the events happening before ’45. I objected, because I suppose it is necessary for a people, to have a great tradition. It must have arrangements and events, which it can be engaged in.
    He said too, that the south part of the country is more conservative than the northern one and that he accepts the queen or king, but that he doesn’t like them very much.
    Then he says, that he is hoping for the world’s unification against nationalism, because it is unprobable and an anachronism.

    Der Brite beneidet also die Westdeutschen um die Geschichtslosigkeit, in die sie nach ’45 eingetaucht seien, während der Westdeutsche die Briten um das Königshaus und seine großen Rituale beneidet; die Krönung von Elisabeth II . wirkt unwiderstehlich fort.
    Auf einem zweiten Zettelchen in dem Gefach – mit einer eingekringelten Zwei markiert – hat der Sohn die Musikfolge notiert, was am 6. April bei dem Konzert gespielt wurde, als er in dem deutsch-britisch gemischten Chor mitsang.

    Scheußliches Orchester. Programm: Brahms, Mozart, Volkslieder, Spirituals, Jazz, Oper. Ganz interessant die Unbekümmertheit.

    Der deutsche Kulturbürger in the making möchte missbilligen, wie Großbritannien den Unterschied zwischen U- und E-Musik ignoriert. In der Zukunft werden die avancierten Kader des deutschen Kulturbürgertums den britischen Weg gehen und auf den Dünkel, den die Unterscheidung von U und E einbringt, verzichten. Diese Zettelchen in dem Gefach, das sind Vaters Akten in der heiligen Aktentasche, in verkleinertem Maßstab.

    Ein drittes Zettelchen in dem Gefach enthält Gedichtzeilen, die der Sohn mit Bleistift notiert hat.

    wir brechen unser hirn aus den gebirgen
    aus den höhlen
    in den wänden die buchstaben
    die zeichen der anderen
    wir trinken vom meer
    das mit gerundeter lippe
    meinen mund überschwemmt

    So etwas erweckt, erklärt die Psychoanalyse, ein durchdringendes Gefühl von Peinlichkeit – was darauf deutet, dass uns das Gedicht mit Triebgeschehen befasst: Der 17-Jährige lässt uns teilhaben an seinen grandiosen Sexualfantasien, die seinen Leib mit Mutter Erde und Vater Meer verschlingen. Er lebt gerade weit entfernt von zu Haus, im Ausland, Vater und Mutter weit hinter diesem Meer, da kann man sich was erlauben . . .

    Am 14. April schrieb Vater Urlaub in sein Merkbuch und ließ alle Datumsfelder bis zum 8. Mai frei: Er war also zu Haus, als der Sohn aus Großbritannien zu Vater und Mutter zurückkehrte.

    Das Strahlen seiner exorbitanten Erfahrung übertrug sich auf die Eltern. Vater erfreute es als Zeichen von Mannbarkeit, dass der Sohn die Ferne so heftig genossen hatte; Mutter kämpfte, ohne es richtig zu merken, mit schwerer Eifersucht. Immer wieder kam sie darauf, wie erschöpft und mitgenommen und, ja, schmutzig nach der langen Reise der Sohn

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