Das Merkbuch
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Gunter Lill, Berlin N 65, Goethestr. 51/53
Fritz Maier, Dipl.-Kfm., Viernheim, Mainstr. 16
Die Adressen von Leuten, die dort seit langem nicht mehr leben, das könnte die Romanfantasie befeuern. Adressen, die man heute ganz anders schreibt, erst die Straße, dann der Ortsname, und mit der Leitziffer, die Vater damals noch wie experimentell für ausgewählte Orte verzeichnet, als Novität. Und dann die Telefonnummern, unter denen sich niemand mehr meldet . . .
Vater verzeichnet immer nur wenige Adressen in seinen Kalendern; der kleine Angestellte war schlecht vernetzt – die Adressbücher von Dr. Schlögl oder Dr. Fabian oder Dr. Heckmann waren gewiss weit dichter gefüllt; vermutlich führten die leitenden Herren eigene Büchel mit den Geschäftsadressen, der Anhang im Kalender reichte nicht aus.
Die Sache ist aber die, dass für die Jahre 1961 und 1962 und 1963 andere Merkbücher Vaters vorliegen. Zum ersten Mal 1961 stiftete ihm seine Firma den Kalender, mit dem sie ihre höheren Mitarbeiter ausstattete, den Treuarbeitskalender.
Mittels zahlreicher Vordrucke definiert die Firma Aufgaben und Bedürfnisse des Besitzers; das Regelwerk seines Arbeitsverhältnisses. Die Filialadressen der Firma von Berlin und Bonn bis München und Saarbrücken; der Versicherungsschutz der Mitarbeiter; das Reisekostenkonto, monatsweise auszufüllen; die Urlaubstage; die Tage- und Übernachtungsgelder für teure und für billige Orte und das Stadtgeld (die Spesengelder wurden erhöht: Vater trug die neuen Summen mit Kugelschreiber ein); Hoteladressen; Preise für öfter gelöste Fahrkarten; gebräuchliche Abkürzungen und ihre Bedeutung (von ABC = Allied Banking Commission und ACR = Allied Commission on Reparations bis zu WGB = Weltgewerkschaftsbund [kommunistisch] und WHO = World Health Organisation).
Einen schematisierten Lebenslauf für jedes Jahr bildet der Kalender, den man als Roman hübsch sollte ausfüllen können.
Die Schematisierung setzt sich im Kalendarium fort. So verlangt die Firma vom Mitarbeiter an jedem Samstag einen Tätigkeitsbericht (Vordruck) und am Ende jedes Monats eine Reisekostenabrechnung (Vordruck).
Am 11. Februar hat Vater, wie er vermerkt, drei Tätigkeitsberichte vorzulegen, zwei für Frankfurt, einen für Saarbrücken, zusammen 6 ½ Tagewerke. In Saarbrücken bearbeitet er – erreichbar unter dem Hausapparat 3446 – die Bücher der Saarbergwerke.
Der Notizkalender des Sohnes stammt dies Jahr von der MaK Maschinenbau Kiel GmbH, Kiel-Friedrichsort, Falkensteiner Str. Großzügige Platzverteilung, pro Seite zwei Tage, unter dem Samstag (Sonnabend) kommt regelmäßig das Notizenfeld hinzu – der Sohn gebraucht den 11. Februar plus Notizenfeld unabhängig von dem Vordruck: Titel wie Reinemachen, Kindergestalten, Pferd und Zirkuswagen. In Bleistift. St. Nikolo und der Teufel. Aquarelle.
Er war in einer Kunstausstellung. Er nutzt das Merkbuch wie seinerzeit Mutter für die Canasta-Rechnungen und die Listen von Blumensamen. Im Übrigen will sich der Sohn eine neue Handschrift angewöhnen, die aber jetzt noch genauso unsicher verläuft wie die alte; gar nicht verläuft, im Grunde sind es Druckbuchstaben, schlecht gezeichnet wie eh und je.
Vater kehrt zu seiner alten Aufzeichnungstechnik zurück. Zwar schreibt er hin und wieder Saarbergwerke, aber der Regeleintrag lautet Saarbrücken, der Ortsname.
Die Saarbergwerke wurden 1957 gegründet, als das Saarland in die Bundesrepublik eintrat. Allerdings gerieten sie bald in die so genannte Kohlekrise hinein: Das Erdöl begann die Steinkohle als Energiequelle zu ersetzen, und die deutsche Steinkohle war teurer als die ausländische, importierte.
Davon erzählte Vater gern und maliziös: dass die Saarbergwerke in Richtung Pleite steuerten. Schadenfreude strahlte Vater wieder am Mittag-, am Abendbrottisch aus, als zöge er aus der Pleite der Saarbergwerke persönlich Gewinn.
Daran fanden die Westdeutschen insgesamt Geschmack, wenn einer der Betriebe unterging, die in der Bundesrepublik zunächst so erfolgreich waren. Borgward. Grundig. Als verdanke sich der ökonomische Erfolg Westdeutschlands der Hybris – die irgendwann den Zorn der Götter herausfordert, weshalb jeder Schicksalsschlag sie besänftigt und das Schuldkonto, das der Erfolg anwachsen
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