Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
gespenstischen
Juchochene
, für die wir nicht verantwortlich waren.
Oft begegnete ich einem von ihnen in der Stadt. Wir freuten uns, als hätten wir uns seit wer weiß wann nicht gesehen. Schmatzten uns ab, liebkosten uns mit Worten, setzten uns in ein Café auf ein
kopje koffie
. Am häufigsten traf ich Igor. Von irgendwo tauchte seine hoch aufgeschossene Gestalt mit dem Rucksack und den Kopfhörern auf.
»Wieso sind Sie hier?«, fragte ich.
»Und Sie?«
»Was machen wir jetzt?«
»Ein bisschen
lopen
.«
So redeten sie, das war ihr Slang. Sie sagten
lopen
oder
wandelen
oder
kopje koffie
oder
lekker
. Selim sagte oft:
Das ist lekker, meine Seel
, wobei er das bosnische
meine Seel
mit dem holländischen
lekker
verband.
Obwohl meine Studenten offen zeigten, dass ihnen unser gemeinsames »Projekt« gefiel, wurde ich das Gefühl, über ein Minenfeld zu gehen, immer noch nicht los. Auf einer unserer Runden durch die Straßen Amsterdams versuchte ich, Igor eine Antwort zu entlocken.
»Sagen Sie mir, Igor, was halten Sie von unserem Unterricht?«
»Wissen Sie, was Tito zu Jovanka sagte, als sie sich das erste Mal sahen?«, fragte er.
»Nein. Lassen Sie mich hören …«
»Er sagte: Hör zu, Jovanka, die du Hände hast unschuldiger als meine … Heute nacht erglüht meine Stirn und meine Lider werden feucht, heute nacht; ein Traum durchstrahlt meine Gedanken, heute nacht ersterbe ich vor Schönheit!«
In Igors Phantasie kombinierte Tito Verse einer kroatischen Dichterin und eines kroatischen Dichters.
»Haben Sie vor nichts Respekt?«, sagte ich lachend.
Er antwortete nicht, dachte an etwas anderes.
»Haben Sie bemerkt,
drugarica
, dass Engel nie lachen?«
»Nein. Darüber habe ich nicht nachgedacht.«
»Haben Sie ihnen nie ins Gesicht geblickt?«
»Ich glaube nicht …«
»You need an urgent tip, teach«, sagte Igor.
Igor und ich verbrachten diesen ganzen Nachmittag im Rijksmuseum und betrachteten die Engel auf den Bildern der alten Meister.
»Sehen Sie, ich hatte Recht. Die Engel lachen nicht!«, sagte er.
»Die Engel und die Exekutoren«, fügte ich hinzu.
Wir mussten beide lachen, obwohl es keinen Grund gab. Mit dem Lachen vertrieben wir eine verborgene Beklommenheit.
Mir fiel ein, dass auch Rekonvaleszenten – Menschen, die gerade eine Krankheit, eine Erschütterung, einen Autounfall, eine Überschwemmung, einen Schiffbruch überlebt haben – nicht lachen. Wir waren Rekonvaleszenten. Aber das sagte ich nicht.
9.
Hier, zwischen den gleichgültigen Wänden unseres fiktiven Labors, versuchten wir etwas wiederzubeleben, was nicht mehr war. Wir wechselten einander ab bei der Herzmassage, der künstlichen Beatmung, wir arbeiteten ungeschickt wie Laien, aber nach einiger Zeit begann das Herz des gewesenen Alltags doch zu schlagen.
Die meisten meiner Schüler kehrten am liebsten in die Kindheit zurück. Das war das sicherste und schmerzloseste Territorium. Ob die Einzelheiten aus dem verschwundenen Leben ihre eigenen waren, oder sie sie von ihren Eltern übernommen hatten oder sie gar fälschten, was Igor häufig praktizierte, war nicht wichtig. Jede Einzelheit barg etwas von einer Wahrheit. Alles zusammen ließ sich nicht übersetzen, wir kommunizierten in einer nur uns verständlichen verschwundenen Sprache. Wie hätten wir auch jemand anderem die Wörter, Begriffe, Bilder erklären sollen und die Empfindungen, die diese Wörter, Begriffe und Bilder in uns wachriefen? Wir befassten uns mit Alchemie. Ich war es, die ihnen verhieß, dass sie am Ende Gold erblicken würden, obwohl ich genau wusste, dass ein in einer Sekunde aufglänzendes Detail schon in der nächsten erlöschen und untergehen konnte. So wie das Herz, das wir mit vereinten Mühen zum Schlagen gebracht hatten, schon in der nächsten Sekunde stehen bleiben konnte.
Gelegentlich fragte ich mich, ob ich nicht das Gegenteil von dem tat, was ich zu tun vermeinte. Denn mit dem Verbot der Erinnerung an die gemeinsame Vergangenheit hatten die Ideologen der neuen Staaten nur deren Attraktivität erhöht. Ich fragte mich, ob ich durch die Anregung zum Erinnern nicht die goldene Aura zerstören würde. Ob ich beim Versuch, den verschwundenen Alltag zu rekonstruieren, nicht erst recht sein graues Surrogat mit Leben erfüllen und die Wertlosigkeit des »Gepäcks« offenbaren würde, das uns kostbar erschien. All diese Fragen gingen mir durch den Kopf, aber die Freude, die uns das Erinnerungsspiel bereitete, schob sie bald beiseite. Ich
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