Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
verdrängte auch die Entdeckung, die mich in einem Moment verblüfft hatte, dass sich meine Studenten an viel mehr erinnerten als ich und dass ich vieles vergessen hatte. Aber auch das kam zu spät. Ich hatte die Erinnerungsmaschine angeworfen, und jetzt war es schwer, sie aufzuhalten.
Nevena: An jedem Monatsersten
Vater arbeitete in der Fabrik, und Mutter war Hausfrau. Unser größter Feiertag hieß »Monatserster«. Da brachte Vater seinen Verdienst in der Lohntüte und übergab ihn Mutter. Sie teilte das Geld ein: so viel für Strom, so viel für Gas, so viel für die Miete, so viel für die Kreditrate. Dann zogen wir uns schön an wie für einen Besuch und gingen einkaufen. Mutter war der »Chef der Parade«, nur sie wusste, wie viel wovon gebraucht wurde, wie viel Zucker, wie viel Mehl, wie viel Öl, wie viel Salz, wie viel Kaffee und wie viel Teigwaren, damit es bis zum nächsten Monatsersten reichte. Mutter kaufte grünen Kaffee. Den rösteten wir in einer Blechtrommel mit einem Türchen und einem
Griff an der Seite. Wir füllten den rohen Kaffee ein und schoben die Trommel auf den Herd, über die Gasflamme.
Wir drehten den Griff, der Griff drehte die Trommel, der Kaffee drehte sich mit und wurde langsam geröstet. Unsere ganze Wohnung duftete lange nach dem frisch gerösteten Kaffee, und das mochte ich sehr. Wir brauchten immer viel Kaffee, denn jeden Tag kamen die Nachbarinnen auf ein Tässchen zu Mutter. Viele Dinge kauften wir nicht. Mutter machte Marmelade, Konfitüre, saure Gurken und Paprika, Ajvar und ähnliche Sachen selbst. Sie wusste auch, wie man Likör aus Kirschen, Walnüssen und Schokolade macht.
All das kam, von Mutter mit Etiketten versehen, in die Speisekammer. Für uns Kinder war es der aufregendste Augenblick, wenn die Süßigkeiten an die Reihe kamen.
Mutter kaufte mehrere Schachteln Kekse und Blockschokolade, weil die am billigsten war. Die Kekse mit Namen »Hausfrau« ließen sich schön in Milch tauchen.
Am Ende kaufte Mutter für jeden von uns ein »Törtchen«, das war eine Waffel mit Schokoladenüberzug. Uns Kindern schmeckte alles Gekaufte viel besser als das Selbstgemachte.
Mutter kaufte immer je zehn Pakete Grissini und Salzstangen, aber die waren für die Gäste. Die bot sie in einem Glas an, die Gäste knabberten daran und sahen dabei aus wie Kaninchen. Dann servierte Mutter ihre »Ikebanas«, wie Vater sie nannte, zwei oder drei flache Teller, auf denen saure Gurken, Wurstscheiben, Paprika und Käse schön angerichtet waren. In jedem Stück steckte ein Zahnstocher, und in der Mitte war ein Klecks Ajvar. Die Gäste bewunderten Mutter wegen dieser »Ikebanas«, aber Vater gingen sie auf die Nerven. »Sollen unsere Gäste an diesen Zahnstochern ersticken?«, rief er. »Du hast keine Ahnung, was modern ist«, antwortete Mutter.
Ich glaube, das Wort
modern
wurde zu der Zeit besonders häufig gebraucht. Mutter wusste genau, was »moderne« Möbel, Lampen, Frisuren, Gardinen, Schuhe, Brillen waren. Damals waren alle verrückt nach Plastik. Plastik war das Allermodernste.
Dann kam der Augenblick, wo Vater den Fernseher einschaltete. Unser Gerät hatte über dem Bildschirm einen Plastikfilter in Regenbogenfarben, was Farbfernsehen vortäuschte.
Jetzt, da ich dies niederschreibe, bin ich nicht mehr sicher, dass es so war. Es kommt mir eher wie ein undeutlicher Traum vor, als gehörte diese Vergangenheit jemand anderem, nicht mir.
Boban: Mein liebster Comic
Bei uns zu Hause gab es nicht viele Bücher. Es gab eins, das Großvater gehörte, und auf das bin ich als kleiner Junge abgefahren. Es war mehr eine Mappe mit goldgerändertem rotem Einband und in der Mitte einem runden Abzeichen aus Metall, wie eine Münze, das einen kahlköpfigen Typ mit Bärtchen zeigte. In der Mappe waren vergilbte DIN - A 4-Blätter, lauter Dokumente, Bilder, Landkarten und Fotos. Viel mehr Bilder als Text. Es sah aus wie ein zerfledderter Comic.
Großvater sagte: »Das ist das Buch der Revolution.«
»Das ist das Buch der Levorution«, wiederholte ich.
»Das ist das Buch der Großen Oktoberrevolution«, wiederholte Großvater.
Und als ich lesen gelernt hatte, entzifferte ich den Titel: »Leben und Wirken von W. I. Lenin, 1870–1924«. Am
besten gefielen mir die Reproduktionen von Gemälden, auf denen die Revolutionäre besorgte und finstere Gesichter machten und meist um einen Tisch saßen und diskutierten.
Im Vordergrund war immer Stalin, obwohl das Buch von Lenin handelte. Mir gefiel das
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