Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
kamen, war unser gemeinsames Trauma.
Ich wusste, dass ich mich auf Messers Schneide bewegte. Denn Erinnerungen zu stimulieren, war genauso eine Manipulation der Vergangenheit wie ihr Verbot. Die Mächtigen in unserem ehemaligen Land drückten die Taste
delete
, ich hingegen die Taste
restore
. Dort manipulierten die Mächtigen Millionen Menschen, und ich hier ein paar. Sie tilgten die jugoslawische Vergangenheit, schrieben dem »Jugoslawentum« die Schuld für alle Katastrophen einschließlich des Krieges zu, und ich kümmerte mich um den Alltag, der unser Leben ausgemacht hatte, und gründete einen »lost & found«-Service auf freiwilliger Basis. Beide Manipulationen verschleierten die Wirklichkeit. Ich fragte mich, ob ich durch die Beschwörung schöner Bilder aus der gemeinsamen Vergangenheit die frischen Bilder der Kriegsrealität unterdrückte. Verdrängte ich nicht, wenn ich meine Studenten aufrief, sich an den Geschmack der »Kiki«-Bonbons zu erinnern, den Fall jenes Belgrader Jungen, den seine Altersgenossen erstochen hatten, nur weil er Albaner war? Verhinderte ich nicht, wenn ich meine Schüler anregte, über Mirko und Slavko, die kleinen Partisanen aus einem populären jugoslawischen Comic, zu »reflektieren«, ihre Auseinandersetzung mit zahlreichen Ausbrüchen von Sadismus, bei denen machttrunkene Jugo-Krieger ihre Landsleute gequält hatten? Die Listen der Verbrechen hatten kein Ende, und ich hatte beschlossen, sie mit den fröhlichen Katalogen eines Alltags zuzudecken, den es ohnehin nicht mehr gab.
Andererseits war alles miteinander verbunden. Der Tod selbst lutschte »Kiki«-Bonbons. Die Menschen mordeten und wurden ermordet, stahlen und wurden bestohlen, vergewaltigtenund wurden vergewaltigt, und all das zu den billigen Refrains des Alltags. Soldaten wurden in dem Augenblick von einer Kugel getroffen, als sie ihre Beute, geplünderte Fernsehgeräte, zum Schützengraben schleppten. Der Tod ging Arm in Arm mit der Trivialität. Daher konnte man das Detail mit den »Kiki«-Bonbons in Dutzenden Varianten wiederholen. Zum Beispiel mit dem Bild eines von einem Scharfschützen getöteten Kindes, aus dessen Mund Blut läuft, vermischt mit »Kiki«-süßem Speichel. Das Böse war ebenso banal wie der Alltag und hatte keinen besonderen Status.
Nur wenn wir uns mit der eigenen Vergangenheit versöhnten, konnten wir aus ihr entlassen werden, glaubte ich. Deshalb wählte ich als
meeting point
das, was uns allen am nächsten war: das kuschelige Terrain der »jugoslawischen« Vergangenheit.
Unsere rot-weiß-blau gestreifte Tasche begann sich zu füllen. Da gab es alles Mögliche: die verschwundene Welt der jugoslawischen Grund- und Oberschulen, die Idole der jugoslawischen Popkultur, Jugo-Produkte, Nahrungsmittel, Getränke, Kleidung, Autos, das Jugo-Design, die ideologischen Slogans, Persönlichkeiten, Sportler, Ereignisse, die jugoslawischen sozialistischen Mythen und Legenden, TV -Serien, Comics, Zeitungen, Filme … Boban hatte irgendwo Videokassetten jugoslawischer Filme aufgetrieben. Wir sahen uns viele an. Sie bewiesen mehr als manches andere, dass es unser Leben gegeben hatte. Dieses ehemalige Leben sahen wir jetzt aus einem neuen, postumen Blickwinkel und entdeckten viele Details, die damals auf die Zukunft hinwiesen. Wir waren Zeugen einer Prophezeiung, die sich bewahrheiten sollte.
Für die Fragen, die mich quälten, war es zu spät. Unsere »Archäologie«, unser »Spiritismus«, die Neubelebung unserer»besseren Vergangenheit« schufen zwischen uns eine solche Nähe, dass es uns immer schwerer fiel, uns nach dem Unterricht zu trennen. Manchmal siedelten wir aus der Fakultät in ein Café über und schwatzten dort, bis die letzte Straßenbahn, der letzte Bus oder der letzte Zug fuhr. Für jemanden von außerhalb sahen wir aus wie ein Stamm, der rituelle, magische Worte murmelte und seine Geister beschwor. Einen Außenstehenden mochte das wie ein unverständlicher Trancezustand anmuten. Und wir befanden uns in einer Art Trance.
Unter meinen Schülern verblüffte mich am meisten Igor mit seinem Gedächtnis. Er erinnerte sich an Details, die er gar nicht kennen konnte.
»Aber Sie waren damals noch nicht geboren?«
»Ich habe
Juchochene
,
drugarica
, die erinnern sich«, erklärte er. Das an sich schon unsinnige Wort
Jugogene
sprach er holländisch aus. Wir lachten. Meinen Schülern gefiel offenbar die Idee, dass nicht wir uns an die Vergangenheit erinnerten, sondern die
Weitere Kostenlose Bücher