Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Zange. Allen war das peinlich. Bis die Sicherheitsleute kamen und meine Mutter von Tito losmachten. Da begann sie lauthals zu plärren.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren war und woher ich so viel Kraft hatte«, erzählte sie später.
Einmal habe ich Tito live gesehen. Das war auf der Zagreber Messe. Er war von Bewachern umgeben. Wir standen zufällig im Spalier. Er war viel kleiner, als er auf Fotos und in Filmen wirkte. Für mich war er sehr dick und alt wie eine Mumie. Als ihn ein Sonnenstrahl traf, sah ich wie unter einer Lupe seinen Schädel voller brauner Altersflecken und das dünne, rötlich gefärbte Haar.
»Gehen wir«, sagte meine Mutter und zog mich fort. Wir besuchten dann eine Eisdiele, und sie kaufte mir so viele Kugeln, dass ich kaum ein Viertel davon geschafft habe. Ich weiß nicht, was in sie gefahren war.
Mario: Der Zug ohne Fahrplan
Jetzt kommt es mir so vor, als hätte früher alles mit der Eisenbahn zusammengehangen. Würde man alle wichtigen und weniger wichtigen Züge in unserem Leben aneinander reihen, käme eine parallele Geschichte Jugoslawiens heraus, nicht weniger bedeutend als die offizielle.
1. Das, was Jugoslawien zusammenhielt, waren weniger »Brüderlichkeit und Einigkeit« als die k. u. k. Eisenbahnstrecken und Bahnhöfe. Wenn ich so einen gelben Bahnhof mit Blumenkästen voller Geranien sehe, bin ich zu Tränen gerührt, und ich weiß, ich bin wieder zu Hause.
2. Der erste Zug in meinem Leben war das Kinderbuch
Der Zug im Schnee
von Mato Lovrak. Mit dem Film
Der Zug ohne Fahrplan
von Veljko Bulajić beginnt die Geschichte der Jugomythologie und auch die der jugoslawischen Kinematographie. Das Thema des Films ist eine
Zugfahrt, der Exodus einer Gruppe Menschen aus dem dalmatinischen Hinterland in die reiche und fruchtbare Baranja (oder war es die Bačka), die »Kornkammer Jugoslawiens«. Auf der Fahrt wechseln Episoden der Liebe, der Streitigkeiten, der ideologischen Widersprüche, ein Kind wird geboren, ein Mensch stirbt. Von da an mehren sich die Eisenbahnmotive im jugoslawischen Film bis hin zu jener rohen Liebesszene in einer schmutzigen Zugtoilette in Kusturicas Film
Papa auf Dienstreise.
Mit Emir Kusturica endet übrigens der jugoslawische Film.
3. Die Ikone der jugoslawischen fünfziger Jahre war der Bau von Eisenbahnlinien. Das war die Zeit des internationalen und nationalen Jugendaktivismus. Die Abschnitte Brčko–Banovići und Šamac–Sarajevo waren die bekanntesten Objekte der Jugendaktionen.
4. Als die Strecken gebaut waren, kam die fröhliche Zeit der Eisenbahnreisen. Mit dem Zug fuhren wir auf Schulausflüge, ans Meer, in die Kaserne. Auf den Waggons stand JDŽ , Jugoslawische Staatsbahn, in kyrillischen und lateinischen Buchstaben. In den Zügen hatten viele ihre erste Begegnung mit Fremdsprachen. Die Aufforderung »Nicht hinauslehnen« war auch in Deutsch, Französisch und Russisch in eine Messingplatte eingraviert. Über jedem Sitzplatz gab es das gerahmte Foto einer jugoslawischen Stadt. Die besten Butterbrote waren die, die wir im Zug auspackten, das köstlichste Brathähnchen wurde im Zug verspeist, die beste Erfindung der Epoche war die Thermosflasche, und die herrlichste, in das Gedächtnis von Millionen Jugoslawen eingeprägte Aussicht war die auf das Adriatische Meer, das nach langer Erwartung am Horizont blaute. Alle, die mit dem Zug ans Meer fuhren, spielten dasselbe Spiel: Wer als Erster das Meer erblickt
und »das Meeeeeer« ruft, bekommt fünf Dinar. Oder so …
5. Die sechziger und siebziger Jahre sind gekennzeichnet durch die »Gastarbeiterzüge«, die Jugoslawen, Griechen und Türken in den Westen und zurück nach Hause transportierten, bis sich die Arbeitssklaven die ersten Autos anschafften. Das Gastarbeiterlied
Meine Kleine, sei bereit, es hat mich übermannt – Schon seit Frankfurt halte ich ihn feste in der Hand
spricht von der Liebessehnsucht, die sich bei einem anonymen Jugo während seiner Bahnreise von Frankfurt nach irgendeinem Dorf in Herzegowina angestaut hat.
6. Der Gipfel der jugoslawischen Konsumepoche war in den achtziger Jahren der Zug nach Triest. In diesem Zug reisten tonnenweise Schmuggelwaren, Jeans, Kaffee, Reis, Öl, T-Shirts, Unterwäsche, Schuhe, alles. Das Ende des jugoslawischen Massenshoppings in Triest fiel mit Titos Tod zusammen. Tito starb mit achtundachtzig Jahren, und das hatte im ganzen Land zahlreiche Aktionen zur Folge. Man pflanzte »achtundachtzig Rosen für den Genossen Tito«, »achtundachtzig
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