Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
große Familie. Meine Eltern liebten Jugoslawien sehr, und wir Kinder auch. Heute glaube ich, dass wir dort Urlaub machten, auch weil es sehr billig war. Wir hatten einen Campinganhänger und lernten so alle Zeltplätze an der Adriaküste kennen. Wir waren unter den ersten Touristen. Ich hatte noch sieben Geschwister, und nur unser Vater arbeitete. Mutter war Hausfrau. Wir drehten jeden Gulden um, wir konnten uns nicht viel leisten.
Auch in den Niederlanden herrschte damals Armut, und die Holländer gingen wie die Jugos nach dem Krieg auf Arbeitssuche nach Neuseeland, Kanada, Brasilien. Daher war die Adria für uns ein echtes Paradies. Jeden Tag gingen die Eltern mit uns in die Eisdiele. Dort reihten wir uns auf wie die Orgelpfeifen, plus Mutter und Vater. Jedes Mal wurden zehn Kugeln bestellt. Nazif begrüßte uns jedes Mal: »He, ihr Holländer, ihr seid weiß wie Vanillekugeln.« Bald wusste das der ganze Ort, und so nannte man uns »Vanillekugeln«. Da kommen die Vanillekugeln …! Unser Familienname war Ter Bruggen Hugenholtz, aber das konnte keiner aussprechen. Jeder von uns bekam seinen »Sommernamen«. Mich nannten sie Joka, aus meinem Bruder Gerard wurde Grga, Frank wurde Frane und aus Wouter wurde Valter nach dem Film »Valter verteidigt Sarajevo«.
Dieses Eis ist meine früheste Erinnerung an Jugoslawien. Zu Hause gingen die Eltern nie mit uns Eis essen, es war zu teuer. Die Einheimischen sagten Šiptar zu dem Eisverkäufer Nazif. Damals wusste ich noch nicht, was ein »Šiptar« ist und welche Unterschiede es bei euch gibt. Für uns habt ihr alle gleich ausgesehen. Für euch waren wir Vanillekugeln, und ihr für uns Haselnusskugeln.
Selim: Sehnsucht nach dem Süden
Im Gymnasium gehörten kurze Überblicke über die mazedonische, slowenische, kroatische, serbische, bosnische und montenegrinische Literaturgeschichte zum Lehrplan, das wissen Sie besser als ich. In Serbokroatisch hatte ich immer eine Vier. Es gab ein Gedicht
Sehnsucht nach dem Süden.
Ich fand schon den Titel komisch; dabei musste ich mehr an einen Werbeslogan denken als an ein Gedicht. Ich hatte es nicht gelesen, aber dann stieß ich hier in unserer Fakultätsbibliothek darauf. Geschrieben hat es, wie Sie genau wissen, Konstantin Miladinov vor etwa hundertfünfzig Jahren. Es ist bekannt, wie verrückt die Dačer nach Ferien sind, ständig reden sie darüber, entweder wollen sie gerade in die Ferien oder sind gerade aus den Ferien zurückgekommen oder fragen einen, wann man in die Ferien fährt. Und dieses Gedicht ist wie von einem Dačer geschrieben und nicht von einem Mazedonier. Ich dachte, das sollte ich meiner Mieke übersetzen. Zunächst legte ich auf Mazedonisch los. Sie werden’s nicht glauben, ich hab mich selbst gewundert, dass mein Gehirn das Gedicht fehlerlos gescannt hatte. Hier als Beispiel zwei Strophen, falls Sie das Buch nicht zur Hand haben …
Hier ist es finster, Finsternis umgibt mich
und dunkler Nebel verhüllt die Erde …
Und dann nach einem längeren Wetterbericht kommt der Protest des Mazedoniers, der mich ins Herz getroffen hat …
Nein, hier kann ich nicht bleiben!
Nein, Frost kann ich nicht leiden!
Gebt mir Flügel, die muss ich kriegen
Zu unsrem Land hinüberfliegen,
durch unsere Orte spazieren gehen,
Ohrid und Struga wiedersehen.
Und wie ich zum Schluss kam – zu dem Vers
Dort den Kaval spielen, beim Untergang der Sonne, und danach sterben, oh, welche Wonne
–, da hat es mich zerrissen. Ich rezitiere auf Mazedonisch wie ein echter Tabakpflücker und flenne. Ich war total weg … Und ich übersetz das unter Tränen meiner Mieke, und sie sagt auf typische Dačer-Art
Mooi!
Da hab ich ihr eine gelangt. Sie fängt an zu weinen. Da tat es mir Leid, klar. Keine Ahnung, was mit mir war. Vielleicht lag es am Gras, vielleicht war das ein »kontemplativer« Joint gewesen.
Darko: Die Hand meiner Mutter in Titos Hand
Das ist nicht meine Erinnerung, sondern die meiner Mutter aus ihrer Zeit als Junge Pionierin. Weil sie eine gute Schülerin war, durfte sie einmal an den Feiern zu Titos Geburtstag teilnehmen. Als der Fotograf kam, um das Gruppenbild »Tito mit Pionieren« aufzunehmen, drängte sich meine Mutter bis zu Tito vor und fasste ihn bei der Hand. Ich habe das Foto gesehen. Meine Alte, an Tito geschmiegt, umklammert seine Hand, und in der anderen hält er eine kubanische Zigarre. Als das Foto geschossen war, wollte Tito seine Hand wegziehen, aber meine Mama ließ nicht los; sie war wie eine lebende
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