Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
Vom Netzwerk:
Birken für den Genossen Tito« und Ähnliches. Fragt ein Zöllner einen Zigeuner, der mit dem Zug aus Triest zurückkommt: »Was hast du in den Taschen?« Und der Zigeuner wie aus der Pistole geschossen: »Achtundachtzig Jeans für den Genossen Tito!«
    7. Der letzte jugoslawische Zug war der »Blaue Zug«, er transportierte auf der Strecke Ljubljana–Zagreb–Belgrad Titos Leichnam, der dann im Belgrader »Haus der Blumen« beigesetzt wurde. Entlang der Bahnlinie standen Hunderttausende, die dem »größten Sohn der jugoslawischen Völker und Nationalitäten« die letzte Ehre erwiesen.
    8. Der Zerfall Jugoslawiens und danach der Krieg begannenan jenem historischen Tag, als die Krajina-Serben in Kroatien Baumstämme auf die Gleise der Strecke Zagreb–Split legten und damit den Zugverkehr für mehrere Jahre blockierten.
    9. Die Linie Zagreb–Split wurde vor ein paar Jahren wiedereröffnet. Der Sonderzug namens »Zug der Freiheit« brauchte einen ganzen Tag von Zagreb nach Split. Die Kroaten konnten dieses Ereignis live im Fernsehen verfolgen. Die Fahrt mit dem »Zug der Freiheit« dauerte so lange, weil der Staatspräsident an jedem Bahnhof ausstieg und eine feierliche Rede hielt. Aber die Serben, die wir aus der Krajina vertrieben, brachen zu Fuß nach Serbien auf, im Auto, auf dem Traktor, in Bussen und Pferdewagen – Züge gab es für sie nicht.
    10. Und schließlich hängt einer der treffendsten Beweise dafür, dass Serbisch und Kroatisch zwei verschiedene Sprachen sind, der Krieg also eine historische Notwendigkeit war, wieder mit dem Zug zusammen. Denn dieses ein und dasselbe Verkehrsmittel nennen die Kroaten »vlak« und die Serben »voz«.
Igor: Horror und Hortikultur
    (Kommentar meines Kumpels Mikec, nachdem ich ihm das Buch
Neuere Anthologie jugoslawischer Lyrik,
Zagreb 1966, zur Ansicht geliehen hatte.)
    Alle sind sie drin, Serben, Kroaten, Mazedonier, Slowenen, aber keine Bosnier und Montenegriner. Zwar ein paar Namen, aber keine eigene section. Dass die slowenischen und mazedonischen Dichter nicht ins Kroatische übersetzt sind, war meine größte discovery.
    Okay. Ich scrolle mal. Ich denk, mal sehen, was meine Alten gelesen haben, als ich noch nicht auf der Welt war. Mit Taschenrechner in der Hand wie auf dem Markt, wenn’s um die Eierpreise geht. Alles in allem gibt es in dem Buch 173 Dichter, davon 55 Serben, 62 Kroaten, 40 Slowenen und 16 Mazedonier. Okay. Cool. Dann zähle ich die Frauen. Bei den Serben hab ich eine gefunden, bei den Kroaten drei und bei den Slowenen zwei. Auf 167 Kerle nur 6 Weiber. Und von denen hatte eine solchen Schiss, dass sie sich ein männliches Pseudonym zulegte. Und was ich noch festgestellt habe: Unsere Dichter sind so verliebt in ihre eigenen Namen, dass sie immer gleich drei aneinander reihen wie die Partisanenhelden, nach denen die Schulen benannt waren. Du weißt nicht, wer Dichter und wer Held ist, alles geht durcheinander, Jure Franičevi
ć
Pločar und Milenko Brković Crni. So einem kommt es gleich, wenn sein Name lang ist wie eine Hausmacherwurst, wahrscheinlich als Ausgleich für die entscheidenden Zentimeter, die ihm unten fehlen. Und noch was, unsere Dichter lieben es, einander ihre Verse zu widmen, sich gegenseitig zu beweihräuchern. No comment. Das spricht ja für sich.
    Ich scrolle weiter. Riesenüberraschung: Etwa fünfzig Prozent der Gedichte handeln von der Heimat oder von der Mama. Also für unsere Freaks ist die Heimat ihre Mama. Und umgekehrt. Alle flennen um ihre Heimat und ihre Mama. So ’nen Scheiß kann man doch nicht lesen. Um die zehn Prozent der Texte befassen sich mit irgendeinem Horror, mit Friedhöfen, mit irgendeiner finsteren Kacke.
    Jeeee, diese zehn Prozent haben mich traumatisiert. Unsere Lyriker sind wie Totengräber, ständig verscharren sie jemanden oder buddeln ihn wieder aus. Lauter fucking Gruftis. So ist da einer, der erst sein Territorium absteckt
(Hier sind meine Toten ausgesät …),
und dann fängt er an zu graben
(Ich rufe euch, meine Toten …).
Du Arschloch, denk ich. Wo haben sie bloß diesen Freak aufgegabelt, vor dem würde sogar Steven King Angst kriegen. Kaum war ich wieder bei mir, da kommt schon der nächste Freak
(Ein Bild ohne Strick um den Hals zeigt der Spiegel des Schreckens an der Wand. Mein Blut, Blut, Blut schreit in diesem Kroatenland).
So ein Scheiß.
    Also scrolle ich weiter. Andere zehn Prozent fallen auf die, wie ich sie nenne, megalomanische Abteilung. Deren Vertreter schreien nur ständig

Weitere Kostenlose Bücher