Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
mitgenommen, um mein Gewissen zu erleichtern. Jetzt zog ich sie aus dem Regal und blätterte darin.
Der Text, mit engem Zeilenabstand auf einer Schreibmaschine getippt, hatte fast keine Ränder, die Buchstaben waren nicht deutlich, es war wohl der dritte oder vierte Durchschlag. Papa hatte das Manuskript mit gewöhnlichen Büroklammern zusammengeheftet und es in eine weiche hellgrüne Pappe gesteckt, mit dem handgeschriebenen Titel:
Lehrtätigkeit in der
Stadt N.
Seine Hefte nannte er »Bücher«. Ich weiß nicht, wie das »erste Buch« hieß, ich nehme an, es bezog sich auf Papas Kindheit, das »zweite Buch« mochte den Titel haben
Von der Wiege bis zur Bahre – die Schulzeit ist das einzig Wahre
. Ich hielt das »fünfte Buch« in Händen mit der akkurat geschriebenen Widmung »Für meine künftigen Enkel«. Diese Widmung traf meine wunde Stelle. Papa rechnete nicht mit »künftigen Enkeln«, sie dienten ihm nur als romantisches Alibi. Dennoch sorgte er dafür, seine Lebensgeschichte in mehreren Kopien zu hinterlassen, in der Hoffnung, eines Tages würde sie jemand lesen.
Ich kam nach N., um in der Schule das zu tun, wozu ich ausgebildet war. Ich war ein Lehrer wie tausend andere. Im Unterschied zu ihnen kam ich an diese Schule und in den Ort N. von Goli Otok.
Papa schreibt seine Bekenntnisse nieder aus der Position des »ehemaligen Menschen«, des »Informbüro-Anhängers«, des »Goli-Otok-Häftlings«. Er spürt, dass er aus dem Leben herausgefallen ist, dass er, obwohl freigelassen, nicht freigesprochen wurde. Während er »abseits vom Leben« täglich »einen zehn Kilogramm schweren Stein fünfzig Meter bergauf schleppte, wo ihm, falls ihm der Wachposten an diesem Tag gnädig war, gestattet wurde, den Stein abzusetzen, Luft zu holen und erst dann mit demselben Stein in den Händen wieder fünfzig Meter bergab zu gehen«, lernten die Menschen »draußen«, wie man immer schamloser »den eigenen Staat ausnimmt«. Sein Leben nach der Haft bezeichnet Papa als ein »postumes« und sich selbst als einen »Toten«, der seine Gefängnisvergangenheit wie »Syphilis« verheimlichen muss. Er fühlt sich mehrfach aus dem Leben geschmissen: er ist keinehemaliger Partisan mehr (an einer Stelle schildert er, wie man ihm seine militärischen Dienstgrade nimmt), auch kein Kommunist (er wird aus der Partei ausgeschlossen), er ist jetzt lediglich ein »Lehrer«.
Der Ton und die Stimmung wechseln: gelegentlich überwiegt das Selbstmitleid, gelegentlich der Paukerton, dann der verbitterte Ton eines Rechtgläubigen, schließlich der eines »gesellschaftlich-politischen Aktivisten« aus der Provinz. Anfangs hatte ich den Eindruck, Papa wende sich an unsichtbare Gefängnismauern, aber schnell wurde mir klar, dass seine Adressaten nicht seine künftigen Enkel, Tito, die Partei, die Udba, der jugoslawische Staat oder die brutalen Wächter von Goli Otok waren, sondern das Provinznest N.
Allmählich schälte sich aus Papas Beschreibungen der jugoslawische Alltag der fünfziger und sechziger Jahre in dem kleinen Ort N., einem von Hunderten, heraus. Papa führte Einzelheiten an: wie er die alte Schule, in der er mehrere Jahre unterrichtete, in Ordnung brachte; wie der schlammige Schulhof gepflastert, wie der Holzschuppen im Schulhof zu einer Werkstatt umgebaut wurde; wie er später, als Direktor der Volkshochschule, den Bau des Kulturhauses und die Gründung des Arbeitervereins für Kultur und Kunst anregte; wie sie ein Laientheater ins Leben riefen und Theaterscheinwerfer besorgten; wie der erste Kinosaal gebaut und Filme beschafft wurden; wie sie den alten, verwahrlosten Stadtpark in Ordnung brachten; wie sie die erste richtige Bücherei mit einem Lesesaal einrichteten und Bücher anschafften; wie sie am Bau einer Mittelschule arbeiteten; wie sie das erste Schwimmbad im Ort bauten; wie sie einen Basketballklub gründeten, wie die erste Musikschule des Ortes entstand … Am rührendsten waren die Beschreibungen seiner Schüler. An einer Stelle erzählter, wie er einem Schüler irrtümlich »Komm auf die Tafel« statt »Komm an die Tafel« zurief und die Klasse in Lachen ausbrach. Während er einen Augenblick abgelenkt war, war der Schüler tatsächlich auf die Tafel gestiegen – damals standen die Schultafeln auf einem Holzgestell. Dieser Schüler, schreibt Papa, habe später sogar zwei Fakultäten absolviert.
Beim Eintritt in den Ruhestand, wenn das Arbeitsleben durch die Überreichung der üblichen Armbanduhr gekrönt wird,
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