Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
beide eine kleine Transaktion erledigen, einander helfen, Schleim und Spucke zu vermischen. Ich suchte einen warmen menschlichen Körper, in dem ich den Schmerz, der in meinen Schläfen hämmerte, wie eine Zigarettenkippe löschen konnte. Die Transaktion war erfolgreich, ich bekam, was ich suchte: den Trost der Selbsterniedrigung. Der Schmerz war weg.
Am nächsten Morgen streifte mein schlaftrunkener Blick einen Geldschein auf dem Tischchen neben dem Bett. Der Mann, an dessen Gesicht ich mich nicht einmal erinnerte, hatte hundert Gulden hinterlassen. Der Schein, in das matte Licht getaucht, das durch das vergitterte Fenster drang, entlockte mir ein Lächeln.
Snip voor een wip!
Ich hatte völlig vergessen, dass ich im Rotlichtviertel wohnte.
3.
Jemand, mit dem Besen in der Hand,
erinnert sich noch, wie es war.
Jemand hört zu und nickt
mit dem nicht geköpften Kopf.
Wisława Szymborska
Der Gebäudekomplex, in dem das ICTY , das International Criminal Tribunal for former Yugoslavia, untergebracht war, erinnerte mich an die sozialistische Architektur Jugoslawiens der sechziger und siebziger Jahre, die für die Funktionalität, aber auch für die Idee der besseren Zukunft, des Internationalismus und der Gerechtigkeit für alle stand. Die UN -Architektur war hier den Dimensionen des kleinen Hollands angepasst. Im Gebäude des Internationalen Gerichtshofs konnten sich alle wie »zu Hause« fühlen. Auch die Jugo-Kriminellen. Nur waren diese vermutlich von der Bescheidenheit des Interieurs holländischer Amtsgebäude enttäuscht.
Nachdem wir gründlich durchsucht worden waren, Besucherscheine bekommen, unsere Taschen in Schließfächern abgelegt und noch eine Kontrolle passiert hatten, stiegen Igor und ich über eine Metalltreppe, die an eine Schiffsleiter erinnerte, zum Gerichtssaal hinauf. Dieser war unterteilt, linkssaßen die Journalisten, rechts die Besucher. Am Eingang bekamen wir Kopfhörer. Ein kleines Schild informierte über die Kanäle und Sprachen, in denen man den Prozess verfolgen konnte. Der Kanal sechs war der Sprache vorbehalten, die da hieß:
kroatische, bosnische und serbische Sprache.
Vor uns war eine Glaswand mit heruntergelassenen Jalousien, die an Filmleinwände erinnerten. In den Ecken links und rechts standen Monitore, auf denen man den Prozess ebenfalls verfolgen konnte. Einige Minuten später, Punkt neun, gingen die Jalousien hoch. Die Richter betraten den Saal, und wir erhoben uns. Auf einem Podest in der Mitte des Saals saßen drei Hauptrichter in schwarz-roten Roben, etwas weiter unten drei Nebenrichter in schwarzen Roben mit weißen Kragen. Die Ankläger und Verteidiger saßen unten an der Seite, damit sie den Blick auf die Richter nicht versperrten. Alle hatten Monitore vor sich. Der Angeklagte saß neben seinem Verteidiger. Er war ein grau gekleideter Mann mittleren Alters mit einem kartoffelfarbenem Gesicht und stumpfem Blick. Er saß auch irgendwie tumb da wie ein Kartoffelsack. Ich war enttäuscht, Igor wahrscheinlich auch. Wir erwarteten einen Verbrecher, und vor uns saß ein Mann, dessen Gesicht man schon in der nächsten Sekunde vergaß. Bis auf ein Detail. Seine Kiefer waren fest aufeinander gepresst, und die Mundwinkel zeigten nach unten. Es war eine Kopie des Gesichts von Milošević, aber auch von Tudjman. Die gleichen aufeinander gepressten Kiefer, der gleiche bogenförmige Schnitt anstelle der Lippen. Diese Volksführer hatten anstelle von Lippen ein umgekehrtes U. Ihre Gesichter waren flach wie auf Kinderzeichnungen. Der Mund ein umgekehrtes U: ein böser Mensch.
Der Ankläger rief einen Zeugen auf, und alle Jalousien wurden sofort heruntergelassen und wieder hochgezogen, bis auf die eine, die den Rücken des Zeugen verdeckte. Das Bilddes Zeugen auf dem Monitor war unkenntlich gemacht. Wir konnten nur seine Stimme hören. Schwenkten die Kameras gelegentlich zum Publikum, konnten wir auch unsere eigenen Gesichter auf dem Schirm sehen. Auf der Glaswand vermischten sich unsere Spiegelbilder mit den Gesichtern der Menschen hinter dem Glas.
Igor und ich verfolgten den Prozess durch die Scheibe und blickten nur ab und zu auf den Bildschirm. Mit der Zeit verharrte mein Blick immer länger auf dem Schirm, als wäre das Bild dort glaubwürdiger als das, was sich hinter der Scheibe live abspielte. Die Worte – wir wechselten von Zeit zu Zeit die Kanäle, um zu hören, wie sich das Ganze auf Englisch, Französisch oder Holländisch anhörte – klangen ebenfalls unwirklich. Die
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