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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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des Turbans und das Goldgelb des Kleides – waren, viel heller als auf den Reproduktionen.
    »Sie haben Ähnlichkeit mit ihr«, sagte er vorsichtig.
    »Ich bin Ihnen nicht mehr böse. Und eine Eins haben Sie sowieso schon bekommen, Sie brauchen mir also nicht zu schmeicheln.«
    »Als wären Sie eine ältere Schwester von ihr, Ehrenwort! Ich meine, Sie beide haben im Gesichtsausdruck etwas von einem Grottenolm.«
    »Sie reden Stuss. Haben Sie je einen Grottenolm gesehen?«
    »Nur auf Fotos«, gab er zu.
    »Ich schon. Zu meiner Zeit pilgerten alle Grundschulen Jugoslawiens zu der Höhle von Postojna.«
    »Und? Wie sieht er aus?«
    »Wie ein Höhlenwesen. Und er ist einmalig. Es gibt ihn sonst nirgends.«
    »So was nennt man eine ausführliche Beschreibung«, spottete er.
    »Also,
proteus anguinus
oder Grottenolm. Zehn bis fünfundzwanzig Zentimeter lang. Eine Art Ausschuss unter den Amphibien, der einzigartige Fall einer misslungenen Metamorphose. Atmet hauptsächlich durch Kiemen, aber auch über die Haut. Lunge rudimentär vorhanden. Er ist blind. Besitzt Arme und Beine, aber auch sie sind unterentwickelt. Anstelle der Beine hat er Stümpfe und an den Ärmchen je drei Finger. Soll mehrere Jahre ohne Nahrung auskommen können. Äußerst langlebig, kann bis zu hundert Jahre alt werden. Die pigmentfreie milchig-blasse Haut ist fast durchsichtig. Man kann kleine durchblutete Kiemen sowie feine Äderchen erkennen, die seinen Körper und das winzige Herz durchziehen. Kurzum, es handelt sich um einen missglückten Mutanten zwischen Eidechse, Fisch und menschlichem Embryo. Der Grottenolm war unser, das jugoslawische Wunder. Den hätten wir statt des roten Sterns auf unsere Staatsfahne setzen sollen. Er war unser E. T.«
    »This is impressive, Teach!«
    »Da ist noch etwas … Ich glaube, der Grottenolm reproduziert sich als Larve, aber sicher bin ich nicht.«
    »Wo haben Sie das alles her?«
    »Keine Ahnung. Und noch etwas …«
    »Was?«
    »Der Grottenolm ist ein Kannibale. Manchmal frisst er seine Kinder.«
    »Jeeeee!«, sagte Igor, obwohl ihn das offensichtlich nicht beeindruckte. Er dachte über etwas anderes nach.
    »Ich hatte doch Recht!«, sagte er.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Meine Freundin taucht aus dem Dunkel der Grotte auf als ein absolut einmaliges endemisches Exemplar.«
    »Erzählen Sie mir mehr von ihr.«
    »Am meisten gefällt mir ihre Hautfarbe, die Farbe der Stalaktiten …«
    »Oder der Stalagmiten?«
    »Wollen Sie mich jetzt verarschen?!«
    »Es gefällt mir nicht, wie Sie sie beschreiben. Aber reden Sie weiter …«
    »Ihre Haut scheint trocken und feucht zugleich. Ich mag diesen Ausdruck einer hingebungsvollen, weichen Hilflosigkeit. Auch gefällt mir ihr halb offener Mund und der trockene, glänzende Film auf ihren Lippen, und dann der kleine Tropfen Spucke im Mundwinkel. Der etwas feuchte Blick, die kaum wahrnehmbare Bereitschaft, in Tränen auszubrechen … Dann diese bezaubernde Verzweiflung, die Abwesenheit und doch stetige Anwesenheit in ihrem Blick. Sehen Sie, ihr Blick folgt dem Betrachter … Und dann dieser kleine weiße Kragen, der sich zärtlich um ihren Hals schmiegt … Dieses anmutige Gesicht, das es nicht erwarten kann, sich in jemandes warme, schützende Hände zu legen … Oder unter ein Fallbeil … In der Tat, sie hat etwas Unvollendetes, genau wie der Grottenolm. Haben Sie bemerkt, dass sie keine Augenbrauen hat? Meine Freundin ist eine schöne Larve, die auf ihre Metamorphose wartet.«
    Igor trat hinter mich, packte mich an den Schultern und schob mich langsam zum Bild hin.
    »Und schauen Sie sich jetzt ihren Ohrring genau an«, sagte er.
    »Ich schaue …«
    »Und was sehen Sie?«
    »Nichts. Eine Perle.«
    Im Glas vor dem Gemälde erblickte ich unser Spiegelbild. Igors Hand ruhte auf meiner Schulter.
    »Schauen Sie genauer hin.«
    »Ich sehe nichts.«
    »Das habe ich mir gedacht. Warten Sie, hier ist ein Vergrößerungsglas …«
    »Sie haben ein Vergrößerungsglas?«
    »Ich habe es zufällig in meiner Jackentasche.«
    »Was tragen Sie sonst noch zufällig in ihren Taschen?«
    »That’s none of your business! Schauen Sie durch das Vergrößerungsglas …«
    »Ich sehe die Perle.«
    »Und darin?«
    »Einen Reflex.«
    »Sie sind wirklich blind. Schauen sie genauer hin.«
    »Ich weiß nicht, bei diesem Bildgenre könnte sich in der Perle vielleicht der Tod spiegeln.«
    »Sie haben keine Ahnung! Die Perle spiegelt das Gesicht Vermeers!«, verkündete er feierlich.
    »Woher haben

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