Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Wirklichkeit, von der uns die Glaswand trennte, flößte nicht mehr Vertrauen ein als die »wirkliche« Wirklichkeit. Beide – diejenige, die Lügen, Lügen, nichts als Lügen produzierte, und die andere, die die Wahrheit, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit bewies – waren in gleicher Weise phantastisch, falls dies das richtige Wort ist.
Da war die Rede von einer Karpfenzucht in einem kleinen bosnischen Ort, deren Chef Uroš’ Vater war; von der Reparatur einer undichten Stelle am Dach des Verwaltungsgebäudes; von Blechen für die Dachabdeckung und deren Besorgung; von jemandem, der mit dem Kauf dieser Bleche beauftragt gewesen sein sollte; von einem Lastwagen und von seinem Fahrer und so weiter und so fort. Die lange und langweilige Aufzählung der für uns sinnlosen Details sollte klären, ob Uroš’ Vater in seiner Freizeit mit noch zwei Männern in eine nahe liegende Baracke ging und seine dort eingesperrten muslimischen Nachbarn zu demütigenden Sexspielen zwang, wobei er angeblich solche wie »Vater mit dem Sohn« oder »Sohn mit dem Vater«bevorzugte, sie anschließend mit seinen nach Fisch stinkenden Händen zu Tode prügelte und ihre Leichen im Karpfenteich versenkte.
Alle an dieser Vorstellung Beteiligten redeten wie Laienschauspieler. Die Pausen waren länger als die Antworten. In einer Robotersprache schilderten die Akteure dieser Gerichtsperformance das Böse als eine mechanische Handlung, so mechanisch wie jede andere. Keiner der Angeklagten fühlte sich schuldig. Unter all diesen Leuten, die ein ganzes Land zerstört hatten, unter all den Volksführern, Politikern, Generälen, Soldaten, Kriminellen, Mördern, Lügnern, Dieben, Nullen und Freiwilligen gab es nicht einen, der einfach sagte: »Ich bin schuldig.« Diesen Satz hatte ich bislang nicht gehört, ich hörte ihn jetzt im Gerichtssaal nicht, und ich werde ihn auch später nie hören. Alle wollen nur ihre Arbeit getan haben. Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie den Nagel in die Wand geschlagen haben? Nein. Fühlen Sie sich schuldig, weil Sie an diesen Nagel ein Bild gehängt haben? Nein. Fühlen Sie sich schuldig, weil sie hundert Menschen umgebracht haben? Nein. Natürlich nicht.
Ich fragte mich, wo die hunderttausend namenlosen Menschen geblieben waren, ohne deren leidenschaftliche Unterstützung es den Krieg nicht gegeben hätte. Fühlen die sich schuldig? Was ist mit den ausländischen Politikern, Diplomaten, Beamten im diplomatischen Dienst, Soldaten, die scharenweise durch dieses Land gezogen sind? Sie waren sehr gut bezahlt. Außer Geld erwarben sie sich den Ruf als Retter sowie die Chance, in der Hierarchie der UN oder einer anderen Organisation eine Stufe höher zu klettern. Kroatien und Bosnien – das waren für sie lediglich Arbeitsplätze mit vielen Vorteilen. Die Hotels waren nicht schlecht, das Essen gut, die Adria nahe. Fühlten sie sich schuldig? Auch sie taten nur ihreArbeit. Der Scharfschütze in den Bergen, der auf eine Frau auf einer Straße von Sarajevo zielte, auch er tat nur seine Arbeit. Der ausländische Reporter, der eine Aufnahme von dieser Frau machte, wobei ihm nicht in den Sinn kam, die erste Hilfe zu rufen (der für seine erschütternden Aufnahmen jedoch den ersten Preis bei einem Wettbewerb für das beste Kriegsfoto des Jahres bekam), tat ebenfalls seine Arbeit. Und sogar die arme Frau, die sich auf dem Bürgersteig krümmte und verblutete, tat ehrenamtlich und ohne es zu wissen ihren Teil der Arbeit bei der authentischen Darstellung des Krieges. Wer ist schuld am Tod von Selims Vater? Wer ist schuld an Uroš’ Tod? Wer ist schuld daran, dass Igor und ich jetzt hier wie angenagelt saßen und auf eine Lösung warteten?
Igor und ich starrten auf den Monitor. Wir sahen dort eine perverse Wirklichkeit, an der wir alle, selbst pervers geworden, teilhatten. Und es gab keinen Unterschied zwischen mir, die ich reflexartig den Blick auf den Bildschirm richtete, und Uroš’ Vater, der mit metallischer Stimme seine Antworten herunterleierte. In dieser mehrfach verfremdeten Welt war keiner schuld. Das Verbrechen war unwirklich. Alles war unwirklich. Mir schien, es genüge ein Klick mit der Computermaus, um die Richter, die Angeklagten und uns Beobachter zu löschen. Ein heilsames, versöhnliches
delete
. Nur der Schmerz war wirklich. Er war der stumme, unbrauchbare, aber einzig wahre Zeuge. Der Schmerz, der aus der Tiefe an die Oberfläche drang und durch die Ader an Selims Schläfe schoss. Der Schmerz,
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