Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
der dumpf in meiner, in Igors Schläfe pochte. Der blinde, stumme und taube Schmerz, der uns plötzlich einen Peitschenhieb versetzte und signalisierte, dass etwas nicht in Ordnung war …
Ich stellte mir vor, wie das wäre, wenn der ganze Schmerz in den schwachsinnigen Mund eines Oskar Matzerath flösseund dieser jetzt aufstünde, den Mund aufmachte und seine Stimme erschallen ließe? Ich stellte mir vor, wie die Glaswand vor uns in tausend Stücke zerfiel, wie die Bildschirme, die Lampen, die Brillen auf den Nasen, die Porzellanprothesen in den Mündern zerbarsten; wie dieser grelle, schneidende Schrei den grauen Kartoffelkopf von Uroš’ Vater, die Köpfe all dieser vom Blut angeschwollenen Mörder wegfegte, die verhärteten Trommelfelle und trägen Herzen sprengte …
Ich schaute zu Igor. Er spürte meinen Blick und sah mich fragend an. Ich nahm ihm den Kopfhörer ab.
»Gehen wir raus«, sagte ich.
4.
Wir verließen den Prozess wie ein Begräbnis, bei dem nicht klar war, wer eigentlich zu Grabe getragen wurde.
»Wohin gehen wir?«
»Zurück nach Amsterdam«, sagte ich.
Wir setzten uns in eine Straßenbahn. Der Besuch des Gerichtshofs war eine Enttäuschung. Wir hatten eine sofortige Bestrafung von Uroš’ Vater erwartet und gingen nun leer aus.
»Das war definitiv kein Nürnberger Prozess«, sagte Igor, der meine Gedanken erriet.
»Nein.«
»Auch nicht der Eichmann-Prozess in Jerusalem.«
»Hören Sie auf«, fauchte ich ihn an.
»Was ist los?! Warum sind Sie böse?«
»Weil ich es nicht richtig finde, die Institution der Gerechtigkeit zu verspotten!«
»Jeeeee! Eine starke Sache, Institution der Gerechtigkeit! Sie sind romantisch,
drugarica
.«
»Und Sie sind zynisch! Und zwar, wo es überhaupt nicht angebracht ist.«
»Schon gut. Sie brauchen nicht gleich so ein Theater zu machen.«
»Hier bemühen sich Leute, unsere Scheiße wegzumachen, weil wir selbst das nicht für nötig halten! Weil uns unsereScheiße nicht stinkt! Zugegeben, das war kein Hollywoodfilm. Auch ich hatte gehofft, Uroš’ Vater hängen zu sehen …«
»Vielleicht lassen sie ihn sogar laufen«, sagte er.
»Verurteilt man auch nur einen Einzigen, hat es sich schon gelohnt.«
»Der ganze Aufwand wegen eines Verbrechers!?«
»Das soll nicht Ihre Sorge sein! Das Geld kommt doch nicht aus Ihrem Steuersäckel, oder?!«
»Jeeeee, was für einen Zirkus Sie veranstalten! Ich bin doch nicht Karadžić oder Mladić!«, fuhr mich Igor an.
»Die Leute in diesem Tribunal tun etwas Nützliches, aber wir gucken zu und kichern blöd! Wir beide haben es dort nicht länger als drei Stunden ausgehalten!«, ereiferte ich mich.
»Aber das Haager Tribunal ist doch keine Kirche!«
»Es wäre nicht einmal schlecht, wenn das unsere Kirche wäre, wenn wir alle dort Buße täten!«, sagte ich.
»Ich hab doch ganz ruhig da gesessen, mind you …«
Ich errötete. Er hatte Recht. Ich hätte ihm am liebsten eine geklebt. Igor sah mich durchdringend an, als lese er meine Gedanken. Die Leute in der Straßenbahn drehten sich nach uns um. An der ersten Haltestelle nahm Igor mich an der Hand.
»Steigen wir aus!«
»Warum?!«, protestierte ich draußen.
»Erstens, weil Sie so laut waren, dass es mir unangenehm wurde. Und zweitens, weil ich Ihnen meine Freundin vorstellen möchte.«
»Sie haben eine Freundin in Den Haag?«, sagte ich wie eine Anfängerin im Kroatischkurs für Ausländer.
»Ja, warum wundert Sie das? Es ist dasselbe, als hätte ich eine Freundin, sagen wir, in Bjelovar.«
Ich bemühte mich, tief zu atmen. Ein plötzlicher Anfall hilfloser Wut blieb mir wie ein Kloß im Hals stecken.
»Nur nicht hyperventilieren«, neckte mich Igor.
Ich würgte den unsichtbaren Kloß heraus und holte Luft.
Igor und ich standen vor dem Mauritshuis.
»Wollen Sie mich schon wieder in ein Museum führen?«
»Meine Freundin arbeitet in diesem Museum«, sagte er.
Wir stiegen auf einem dicken roten Läufer eine Holztreppe hinauf. Auf der ersten Etage bog Igor nach links. Im ersten Saal gleich neben dem Eingang hing Vermeers berühmtes
Mädchen mit dem Perlenohrring.
»Das also ist Ihre Freundin?«
»Yes, this is my chick!«
Ich kannte das Bild, ich war schon einmal im Mauritshuis-Museum gewesen, verschwieg das aber. Nun stand ich wieder wie verzaubert vor dem Gemälde. Das Original sah aus wie ein verblichenes Exemplar seiner zahlreichen Reproduktionen. Als ich das Bild zum ersten Mal sah, wunderte ich mich, wie hell die Farben – das Hellblau
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