Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
sich in einen Tintenfisch verwandelt.«
Ich lachte. Das verschaffte mir Erleichterung.
»Erzählen Sie von sich«, sagte ich vorsichtig.
»Wie meinen Sie das?«
»Sagen Sie einfach etwas über sich. Haben Sie Eltern? Wo wohnen Sie? Mit wem leben Sie? Haben Sie eine Freundin? Mit wem verbringen Sie Ihre Freizeit?«
»Schon wieder Ihre blöden Fragebögen! Sie können es nicht lassen. Sie müssen keine Angst um mich haben. Erstens, ich würde mir nie wegen eines solchen Verbrechers, den wir heute im Gerichtssaal gesehen haben, das Leben nehmen. Zweitens, ich gehöre nicht zur Kategorie der Selbstmörder. I’m a player. I’m sharp as a tack!«, sagte er.
Im Zug nach Amsterdam sprachen wir wenig. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Igor blätterte in holländischen Zeitungen, ich packte mein Souvenir aus und streichelte das gläserne Oval. Dabei dachte ich an die Fotos in der Vitrine meiner Mutter. Darunter war kein Foto meines Vaters. Ich konnte mich nicht an ihn erinnern, denn ich war erst vier, als er sich das Leben nahm. Mutter weigerte sich, über ihn zu sprechen. Sie hatte alle Bindungen gekappt und erlaubte auch mir keinen Zugang zu ihm. Ich wusste überhaupt nichts von ihm, trug nicht einmal seinen Namen, sondern den meiner Mutter. Auch damit hatte sie dafür gesorgt, jede Spur zu verwischen. Sie versagte ihm einen Platz auf dem Hausfriedhof, bei den Fotos in der Vitrine. Sie war fest davon überzeugt, dass sie mich »beschützte«, indem sie Vater aus meiner Biographie tilgte. Wovor, das wusste nur sie allein. Keine Ritze hatte sie gelassen, durch die ich hindurchgekommen wäre, keinen Faden, an den ich mich hätte halten können. Sie kontrollierte streng einen Teil meiner Vergangenheit und besetzte nicht nur ihren, sondern auch den Platz meines Vaters.
Die unsichtbare Perle an meinem Ohr war leer. Ich prüfte ihre matte Oberfläche auf der Suche nach jenem, dem einzigen magischen Bild. Ich war mir nicht sicher, ob das Bild, das manchmal aus der dunklen Tiefe meiner Erinnerung auftauchte, einem realen Ereignis entsprach und ob der Mann in diesem Bild mein Vater war. Er könnte es sein. Ich bin drei Jahre alt, sitze auf den Schultern des Mannes und halte mich an seinen Haaren fest. Der Mann hält meine Füße in seinen Händen, als zöge er an beiden Enden eines Schals. Um uns herum Schnee, es ist Abenddämmerung, alles leuchtet in einem magischen Licht. Dann sinkt der Mann mit mir auf den Schultern im Zeitlupentempo in den tiefen Schnee. Das Glücksgefühl, das ich dabei empfinde, ist unbeschreiblich …
»Sie kratzen sich am Ohr«, sagte Igor, der den Blick von der Zeitung gehoben hatte.
»Ich war mir dessen nicht bewusst.«
»Woran denken Sie?«
»Keine Ahnung … An nichts …«
Am Bahnhof trennten wir uns, jeder ging seiner Wege. Ich drehte mich um und sah Igors hoch gewachsene Gestalt etwas gebeugt unter seinem Rucksack, die Hände in den Hosentaschen. In der Dunkelheit, von hinten gesehen, umschwärmt von kleinen Schneeflocken, kam er mir größer und erwachsener vor.
»He, wir sehen uns am Montag in der Vorlesung«, rief ich ihm nach.
Er drehte sich um und hob nur die Hand zum Zeichen, dass er mich gehört hatte.
5.
Ines und Cees hatten mich eingeladen, zum ersten Mal, seit ich in Amsterdam war. Allerdings war ich mit Ines nie eng befreundet gewesen. Dass sie mich aufforderten, nach Amsterdam zu kommen, war eher ein Zufall. Ein gemeinsamer Bekannter aus Berlin traf Ines in Amsterdam, sie unterhielten sich über dies und jenes, darüber, wer wo gelandet sei, und so erfuhr sie meine Adresse. Wir hatten gemeinsam studiert und gingen eine Zeit lang zusammen aus. Ines war mit Vladek, ich mit Goran befreundet, die beiden kannten sich aus der Schule. Ines und Vladek heirateten als Studenten und verschwanden gleich nach dem Studium aus Zagreb. Man erzählte, sie seien nach Amsterdam gegangen. Während des Studiums hatte Vladek Geld mit dem Verkauf von Bildern kroatischer Naiver verdient, hauptsächlich in Italien. Später hieß es, er habe in Amsterdam eine Galerie eröffnet.
Ich hatte erwartet, Ines würde sich gleich nach meiner Ankunft in Amsterdam melden. Ich rief sie mehrere Male an und schlug ihr ein Treffen vor, aber jedes Mal entschuldigte sie sich freundlich: im Moment habe sie keine Zeit, da seien doch die Kinder, aber wir beide würden uns bestimmt treffen und
nach Herzenslust plaudern, wie früher.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir beide uns jemals allein, ohne Goran und
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