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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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lautet: Das Verharren im ›Exil‹ bedeutet die Niederlage. Potjeh verbringt mehrere Tage im Wald in totaler Amnesie, im Vergessen. Seine Heimkehr bringt ihm das Gedächtnis zurück, aber auch den Tod. Den Triumph menschlicherFreiheit gibt es anscheinend nur in der ironischen Sekunde des Weggehens in die eine oder die andere oder in eine dritte Richtung. Dieser inneren Wahrheit zuliebe verlässt die Autorin das Genre und schreibt ein miserables Märchen.«

    Igor betrachtete mich von der Seite. Sein dunkler, etwas schräger Blick wog meine Seele.
    Ich war niedergeschmettert. Er hatte mir etwas gezeigt, worauf ich nie gekommen wäre. Man konnte das Märchen zwar auf die eine oder die andere Art auslegen, aber Igors Interpretation schien mir erstaunlich überzeugend und erschütternd. Was, wenn das stimmt? Was, wenn die Heimkehr tatsächlich den – symbolischen oder wirklichen – Tod bedeutet? Was, wenn das Bleiben in der Tat eine Niederlage ist und wir einzig im Augenblick des Weggehens wirklich frei sind? Wenn es so ist, was fangen wir mit dieser Erkenntnis an? Und wer sind »wir«? Sind wir nicht doch alle zerstückelt und suchen wie Meliha unsere Körperteile, kleben sie mit Spucke, legen uns selbst wie ein Puzzle zusammen?

    »Was ist,
drugarica
, … ähm … Frau Professor Lucić?«, sagte er etwas spöttisch, als lese er meine Gedanken.
    Igor stieß mich grob in die Rolle zurück, die ich inzwischen vergessen hatte. Das Gespräch, das wir gerade geführt hatten, sollte die zur Versöhnung ausgestreckte Hand sein. Ich hatte sie als Erste gereicht, jetzt zog ich sie jäh zurück.
    »Danke, Igor, das genügt. Die Noten werde ich noch heute festlegen. Morgen oder übermorgen können Sie sie von der Sekretärin erfahren«, sagte ich und hasste mich dabei wie noch nie.
    Er zuckte mit den Achseln und nahm seinen Rucksack, bereit zu gehen.
    »Just a footnote, Frau Professor«, sagte er an der Tür. »In der Literatur sind es immer die Männer, die ausziehen, dann zurückkommen und als verlorene Söhne Tränen vergießen. Aber wie steht es mit den Frauen?«
    Ich antwortete nicht. Ich schaute ihn an, konnte aber seine Umrisse kaum wahrnehmen. Mit meinen rudimentären Beinstümpfen am Boden haftend, nahm ich die Farbe meiner Umgebung an und blinzelte in seine Richtung – blind, taub und stumm. Tief in mir zitterte der Grottenolm,
proteus anguinus
, das Wesen, das in seiner Metamorphose stecken geblieben war. Ich atmete durch Kiemen, unter meiner durchsichtigen Haut verliefen feine Äderchen, mein winziges Herz pochte kaum hörbar. Hilf mir, rief es, berührst du mich, so verwandle ich mich in ein wunderschönes Mädchen, gehst du aber, bleibe ich eingekerkert in meiner Dunkelheit …

    Nachdem Igor gegangen war, blieb ich noch lange im Zimmer sitzen. Langsam bestimmte ich die Noten. Nevena, Selim, Mario, Darko, Boban, Amra – sie alle bekamen ein »ausreichend«. Meliha, Johanneke und Ana die Note »sehr gut«. Einzig bei Igor tat ich mich schwer. Ich weiß nicht, warum, und glich darin Ivana Brlić-Mažuranić, die offensichtlich nicht wusste, wie sie einem bewährten Genre gerecht werden sollte. Irgendetwas in ihr hatte sie gehindert, diese Erzählung so leicht und auf die vorgeschriebene Art abzuhandeln wie die bisherigen. Ich weiß nur, dass ich einen unwiderstehlichen Drang in mir fühlte, in die falsche Richtung zu gehen. Als ich dann nach langem Zögern in Igors Prüfungsbogen ein »ungenügend« eintrug – dem ich eine kurze, verlogene Begründung hinzufügte –, verspürte ich Übelkeit, gepaart mit einem starken Schamgefühl, verspürte ich Scham, gepaart mit einem vagen Gefühl der Erleichterung.
    Es blieb nur noch, die Noten und den Zimmerschlüssel bei der Sekretärin zu hinterlegen und mich von Cees zu verabschieden. Ich blickte mich im Zimmer um. Da war eine Leere. Hinter mir Öde, vor mir auch nichts. Das Einzige, was mir blieb, war der Schlüssel in dem Briefumschlag tief in meiner Handtasche.
    Als ich dann die Schreibtischschublade aufmachte, um nachzusehen, ob ich etwas vergessen hatte, entdeckte ich ganz hinten ein gefaltetes Blatt Papier. Es war der anonyme Brief, den ich vor einigen Monaten in meinem Postfach in der Uni gefunden hatte. Ich hatte ihn tief in die Schublade gesteckt und völlig vergessen. Jetzt las ich ihn wie zum ersten Mal.
»Dir zeig ich es noch, du elende Jugo-Hündin. So viele Menschen mussten sterben, weil sie aus dem kommunistischen Schweinestall ausbrechen wollten, und du

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