Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
was erwartet Sie ›zu Hause‹?«
»Vermutlich das Grauen.«
»Und hier?«
»Das Ausbleiben des Grauens.«
»Für viele Grund genug, zu bleiben.«
»Auch Holland ist in gewisser Hinsicht schwer zu ertragen«, sagte sie ruhig.
Sie nahm aus ihrer Handtasche einen Briefumschlag und legte ihn auf den Tisch.
»Was ist das?«
»Der Wohnungsschlüssel.«
»Von welcher Wohnung?«
»Wir brauchen die nicht mehr, und Sie bleiben vielleicht hier.«
»Dessen bin ich mir nicht sicher.«
»Sie können ja sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«
»Ist das Ihre Wohnung?«
»Das ist Geerts Sozialwohnung. Sie brauchen nur die Nebenkosten zu übernehmen, und die sind wirklich gering. Die Wohnung liegt nicht zentral, darauf muss ich Sie hinweisen. Im Umschlag finden Sie auch die Adresse, die Telefonnummer und alle nötigen Informationen. Einige alte Möbel sind noch drin, aber Sie können sie alle rauswerfen. Sie können auch ändern, was Ihnen nicht gefällt. Geert und ich fahren in einer Woche. Wenn Sie sich entschieden haben, geben Sie mir Bescheid. Falls Ihnen die Wohnung nicht zusagt, werfen Sie einfach den Schlüssel in den Briefkasten.«
Ana ließ mich sprachlos zurück. Ich spürte einen Stachel des Neids, denn sie schien ein Wissen zu besitzen, das mirfehlte. Ich starrte noch eine Weile auf den Umschlag, steckte ihn dann in meine Handtasche. Anas Schlüssel öffnete für einen Augenblick eine Tür, aus der meine Ängste herausquollen.
Es blieb noch Igor, aber ich hatte keine Kraft mehr. Ich dachte an Ana und Meliha, über deren Leben ich so wenig wusste. Obwohl ich sie schon kannte, blätterte ich abwesend in Igors Arbeit, die vor mir lag. Zum Thema Heimkehr hatte Igor ein völlig unerwartetes Beispiel gewählt, das Märchen der kroatischen Schriftstellerin Ivana Brlić-Mažuranić
Wie Potjeh die Wahrheit suchte.
Auf einer Lichtung in einem alten Buchenwald lebt der greise Vjest mit seinen drei Enkeln Ljutiša, Marun und Potjeh. Denen erscheint eines Tages der Gott Svarožić, den Igor den »slawischen Superman« nennt, und rät ihnen, den Großvater nicht zu verlassen, bevor er sie verlassen habe, und nicht in die Welt hinauszuziehen, ehe sie seine Liebe erwidert hätten.
Als der Großvater später seine Enkel fragt, welchen Rat der Gott Svarožić ihnen gegeben habe, kann Potjeh sich nicht mehr erinnern (Igor nennt das einen Black-out), verlässt daraufhin das Haus und geht in den Wald, in der Hoffnung, dort die Erinnerung wiederzufinden. Im Wald greifen ihn die Waldgeister an, die Igor als die »Adjutanten von Lex Luthor« bezeichnet …
Ich rief Igor herein. Als er mir gegenübersaß, sah ich in seinem Gesicht wie in einem Spiegel mein eigenes. Igor hatte alles registriert, was ich während des zweiten Semesters gesagt hatte, und ließ jetzt das Band ablaufen. Das trockene Schulrepertoire, mit dem ich sie das ganze Semester über gefüttert hatte, schleuderte er mir jetzt ins Gesicht, wobei er nicht einmal sonderlich bemüht war, seine Verachtung zu verbergen.
»Ihre Hausarbeit hat mich verwirrt«, unterbrach ich ihn.
»Das Märchen ist verwirrend«, sagte er ernst.
»Was meinen Sie damit?«
»An welche wichtige Wahrheit kann Potjeh sich ums Verrecken nicht erinnern? An das, was Svarožić ihm gesagt hat, nämlich schlicht und einfach, zu Hause zu bleiben. As simple as Käse.«
»Und?«
»Svarožić erscheint Potjeh noch einmal und wiederholt, er solle nach Hause gehen. Als Potjeh sich dann endlich wieder erinnert, kommt er um. ›Ich will mir schnell noch das Gesicht waschen, bevor ich zu meinem teuren Großvater eile‹, sagt er, neigt sich über einen Brunnen, fällt hinein und ertrinkt. Just like that!«, sagte Igor und schnippte mit den Fingern.
»Und wie interpretieren Sie das?«
»Nach allen Regeln des Genres, das da heißt
there is no place like home
, müsste das Märchen ein Happy End haben. Aber irgendein Teufel hat die Autorin daran gehindert, die Geschichte ordentlich zu beenden. In den Märchen werden die Helden normalerweise mit Verstand, Mut, Reichtum und einer Prinzessin belohnt und ersaufen nicht in einem Brunnen.«
»Potjeh endet im Schloss von Svarožić.«
»Die Brlić-Mažuranić erhebt Potjeh in das himmlische Schloss, was einem Happy End im Tod gleichkommt. Das ist ein falsches Ende, denn das Paradies oder die Hölle blühen uns allen auf jeden Fall. In technischer Hinsicht ist diese Erzählung bullshit, aber psychologisch ist sie genial.«
»Wieso?«
»Ihre Botschaft
Weitere Kostenlose Bücher