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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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willst jetzt wieder den Gestank von Brüderlichkeit & Einigkeit verbreiten. Hör auf mit diesem jugoslawischen Scheiß! Tod dem Volke, Freiheit dem Faschismus.
    Hauptmann Leši (der dich bald auf seinen Schwanz aufspießen wird)«
    Kein Sprachfachmann hätte mit Sicherheit sagen können, ob der Briefschreiber ein Serbe, ein Kroate oder ein Bosnier war. Seine Sprache des Hasses verstand ich sehr gut, darin hatte ich wohl oder übel Übung bekommen, darin war ich mittlerweile eine Expertin geworden. Es würde mir aber schwer fallen, den Inhalt des Briefes einem Holländer zu übersetzen. Wie sollte man jemandem verständlich machen, was alles hinter den Worten »Brüderlichkeit und Einigkeit« oder der Parole »Tod dem Volke, Freiheit dem Faschismus« steckte? Wie ihm erklären, wer Hauptmann Leši war?
    Dieser anonyme Brief, der in meiner Schublade ruhte, war ein aus dem Krieg übrig gebliebener Granatsplitter. Mittlerweile war es mir egal, aus welcher Richtung er geflogen kam. Ich nahm einen roten (sieh an, roten!) Filzstift und korrigierte mit fast zärtlicher Gelassenheit die Rechtschreibfehler. Danach zerriss ich den Brief in kleine Fetzen, die ich wie Konfetti in die Luft warf. Der Krieg war zu Ende.

9.
    Langsam stieg ich von der fünften Etage die Treppe hinunter und lief im Erdgeschoss Laki in die Arme, Laki Linguist, der im ersten Semester manchmal in meinem Unterricht aufgetaucht und dann verschwunden war. Er blieb stehen, wusste nicht, was er sagen sollte, blinzelte, brachte schließlich, den Blick zur Seite gerichtet, träge hervor:
    »Wie geht es Ihnen, Frau Lucić?«
    »Gut, und Ihnen?«
    »So-so. Ich wusele noch immer an der Uni herum.«
    »Das tun wir alle, sonst wären wir uns jetzt hier nicht begegnet.«
    »Ab Herbst werde ich jeden Tag hier sein.«
    »Ja?«
    »Die Fakultät hat mir ein kleines Zimmer zur Verfügung gestellt, damit ich endlich mein Wörterbuch zu Ende bringen kann.«
    »Gratuliere.«
    »Ja, nicht schlecht … Und wenn es erst veröffentlicht ist, müssten sich die Dinge doch zum Besseren wenden.«
    »Aber sicher«, sagte ich.
    »Wenn wir das im Kommunismus schon nicht geschafft haben. Stimmt’s?«
    »Stimmt«, bejahte ich ironisch, aber Laki war offensichtlich nicht empfänglich für Nuancen.
    »Das kroatische Fremdenverkehrsministerium hat etwas Geld lockergemacht, die sind am meisten an diesem Wörterbuch interessiert, klar, wegen der holländischen Touristen. Etwas konnte ich auch beim kroatischen Kultusministerium loseisen. Und die hiesige Fakultät greift mir Gott sei Dank auch unter die Arme. Es ist nicht viel, aber wenigstens werde ich ein eigenes Zimmerchen haben. Vielleicht lassen sie mich nebenbei Sprachübungen mit den Studenten abhalten …«
    »Das klingt sehr gut.«
    »Ja, nicht schlecht. Werden Sie im Sommer unten sein?« Er gebrauchte das Wort
unten
als neutralen Ersatz für das Land, das die Gastarbeiter, als es noch existierte, Juga nannten, wobei sie den Vokal
u
doppelt lang dehnten.
    »Vielleicht.«
    »Ich kann es nicht abwarten, hinunterzufahren. Meine Eltern haben ein Ferienhäuschen auf Hvar. Jeden Sommer verbringe ich dort zwei Monate …«
    »Also dann. Auf Wiedersehen«, unterbrach ich ihn.
    »Glück Ihnen, Frau Lucić«, sagte er.
    Lakis Blinzeln, mit dem er es vermied, dem Gegenüber länger als eine Sekunde in die Augen zu schauen, sein antikommunistisches Zuzwinkern, das mit dem Regierungswechsel in Mode gekommen war – dabei hatte Laki unter dem Kommunismus nicht im Geringsten gelitten –, dieses Zagreber
so-so
, dieses aufgesetzte
Frau Lucić
, dieses unerträgliche Sprachgemisch, der Gegensatz zwischen seinem Alter und seiner halb kajkawischen Redeweise, als sprächen aus demselben Mund Großvater und Enkel, sein
Glück Ihnen,
das ich bislang im Alltag nie gehört hatte – all das löste in mir eine leichte Übelkeit aus, wie bei einer schlimmen Vorahnung.

    Statt hinauszugehen, drehte ich mich um, fuhr mit dem Aufzug wieder nach oben und klopfte an Cees’ Tür. Er war allein.
    »Kommen Sie herein, Tanja«, sagte er. »Gut, dass Sie da sind, ich wollte Sie sowieso in diesen Tagen aufsuchen.«
    Seit dem Abendessen in ihrem Haus hatten sich Cees und auch Ines nicht mehr gemeldet. Ich hatte ein- oder zweimal angerufen und mir Ines’ gefühlstriefende Ausreden angehört, wie beschäftigt sie seien, wie wenig Zeit sie hätten, aber selbstverständlich an mich dächten, wie sie von meinen Studenten nur das Beste über mich hörten und wie wir beide

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