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Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
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eine!«
    »Das würden Sie nicht wagen!«, sagte ich.
    »Wanna bet?«
    Bevor ich zur Besinnung kam, versetzte Igor mir eine heftige Ohrfeige. Es verschlug mir den Atem.
    »Sie sind wirklich nicht normal«, stieß ich hervor.
    »Sie aber wohl?«
    »Wie reden Sie mit mir?«, sagte ich atemlos.
    »As I want to. Mind you, Sie sind keine ›Lehrerin‹ mehr. Hören Sie deshalb jetzt auf zu meckern und sich aufzuspielen.«
    »Hören Sie zu, Igor, seien Sie kein Kind, ein Anruf bei der Sekretärin genügt, und ich kann Ihre Note korrigieren«, sagte ich.
    »Meine arme Lehrerin! Ich bin ein viel zu guter Student, als dass mich Ihre schlechte Note erschüttert hätte!«, sagte er ironisch.
    Ich verstummte. Er hatte Recht. Ich wusste nicht, wie ich mich wehren, was ich ihm sagen sollte. Auch hatte ich keine Kraft mehr. Ich war fertig und befürchtete, durchzudrehen.
    »Igor, verzeihen Sie mir, bitte …«, sagte ich vorsichtig, nachdem ich tief Luft geholt hatte.
    »Es gelingt mir ums Verrecken nicht, das richtige Wort aus Ihnen herauszuholen«, wiederholte er ruhig.
    »Das wird Ihnen auch nicht gelingen, denn ich habe es nicht! Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen. Das richtige Wort? Ich kann seit Monaten kein richtiges Wort mehr hervorbringen!«
    Ich zitterte vor Zorn. Wieder sprach ich wie eine Teilnehmerin des Kroatischkurses für Anfänger. Ich versuchte, meine Hände zu befreien, und musste vor Schmerz aufschreien.
    Igor beobachtete mein Aufbegehren, als sähe er sich eine schlechte Theatervorstellung an. Dann nahm er Klebeband aus der Hosentasche.
    »Wo haben Sie eine Schere?«
    »Auf dem Regal«, sagte ich, Tränen in den Augen.
    Igor schnitt ein Stück Band ab und klebte es geschickt wie ein Einbrecher über meinen Mund.

    »So, jetzt haben Sie endlich, was Sie wollten. Kino. The movie of the week. Meine liebe
drugarica
, Sie sind ein stolzes Tierchen. Halten noch immer an sich. Wissen, dass Sie in der Patsche sitzen, meinen aber, Ihre Lage sei immer noch besser, als sie in Wirklichkeit ist. Noch immer glauben Sie, einen Status zu haben, noch immer rechnen Sie mit Ihrem Besitz, mit Ihrem Ehemann, obwohl er nach Japan abgehauen ist; mit Ihrer Wohnung, obwohl ein anderer darin lebt; mit Ihren Büchern, obwohl sie nicht mehr Ihnen gehören; mit Ihrem Doktortitel, obwohl er nichts wert ist. In einem verborgenen Winkel Ihres Hirns rechnen Sie noch immer damit, dass das Leben wieder die alte Gestalt annimmt. Sie meinen, was Ihnen jetzt passiert, sei nur ein kleiner, freiwilliger Ausflug, es reiche, mit den Fingern zu schnippen, und – hoppla! – alles würde wieder so sein wie früher. Ist es nicht so? Am I right? Obwohl Sie schon seit zehn Monaten in diesem Keller hausen und die Füße der Menschen zählen, die vor Ihrer Nase vorbeispazieren, obwohl Sie Tausende schlechte Filme gesehen haben, wette ich, dass Sie nie versucht haben, sich selbst in einem anderen Lebensskript zu sehen. Zum Beispiel, wie Sie im Rotlichtviertel in einem Schaufenster sitzen, in einem Mini-Zimmer mit einer Mini-Schüssel und einem Mini-Handtuch, und auf Kundschaft warten. Sie haben nie versucht, sich vorzustellen, wie Sie Toiletten putzen, obwohl Sie wissen, dass Selim das tut. Oder wie Meliha holländischen Tattergreisen Gesellschaft leisten …
    Haben Sie je daran gedacht, Ihre Schüler könnten bessere Menschen sein als Sie? Ja? Sie sind doch nicht gefühllos,
drugarica
, möglicherweise haben Sie sogar daran gedacht, aber diesenGedanken sofort verscheucht. Haben Sie daran gedacht, dass manche Studenten mehr wissen könnten als Sie? Nur sind die im Unterschied zu Ihnen durch die Schule der Erniedrigung gegangen und spielen sich daher nicht auf. Die haben am eigenen Leib gespürt, dass man die Dinge relativieren muss. Denn die Dinge sind relativ. Die Entfernung wurde bis gestern noch in Zentimetern gemessen. Eine Granate hätte auch Sie treffen können. Zufällig tat sie es nicht. Sie haben freilich Mitleid mit denen, die unmittelbar Bekanntschaft mit ihr machten, aber obwohl Sie es niemals zugeben würden, hegen Sie doch in einer entlegenen Windung Ihres Hirns den Gedanken, die Granate habe eine Auswahl getroffen. Und dafür müsse es doch einen fucking Grund geben. Irgendetwas hindert Sie daran, die Dinge in einen Zusammenhang zu bringen und zu begreifen, dass Sie nur, weil diese Granate Sie verfehlt hat, unsere Lehrerin wurden. Es hätte glatt auch umgekehrt sein können. Dann hätten Sie als Flüchtling die Bank gedrückt, und Meliha

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