Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
wollüstig halb geöffneter Muscheln und dem silbrigen Schimmer frischer Fische. Die Äpfel auf meinem Lieblingsmarkt glänzten golden, die Trauben leuchteten wie winzige Lampions, die Milch war dickflüssig und weiß wie die Haut auf Vermeers Frauenbildnissen.
Doch mit einem Mal verflüchtigte sich meine hedonistische Phantasie. Jetzt lagen da nur noch tote Fische, die Äpfel waren zwar weiterhin rot und die Salatköpfe grün, aber der Glanz war weg. An den Ständen hockten schäbige Verkäufer billiger Klamotten, die Luft um sie herum war vor lauter synthetischer Fasern elektrisch geladen. An den Ständen hockten Verkäufer von allerlei Kram: Knabbereien, Schneidegeräte, Staubwischer,Plastikkämme und -bürsten, falsche Haarteile in allen Farben, Rückenkratzer mit einer kleinen Plastikhand – alles Dinge, deren richtigen Namen niemand wusste. An den Ständen hockten Verkäufer von Seifen, Shampoos, Cremes, billigen Taschen, Kunstblumen, Schulterpolstern, Ellbogenflicken, Nadeln und Garnen, Kissen, Bettüberwürfen, Bildern und Bilderrahmen, Nägeln und Hämmern, Würsten und Käse, Hühnern und Fasanen, mottenzerfressenen Kleidungsstücken …
Ich kroch zwischen den Ständen herum, mein von dem Zigeunerlied getroffenes Herz blutete noch immer; da erblickte ich etwas, was ich nicht gesucht hatte: die rot-weiß-blau gestreifte Plastiktasche. Ana hatte Recht, sie kostete nur zwei Gulden. Danach bog ich wie ein ferngesteuertes Spielzeug zu der Metzgerei
Zuid
ab, wo sich, von Heimweh getrieben, Amsterdamer Jugos versammeln. Im Schaufenster lagen Schweinsfüße, die Regale boten eine bescheidene jugonostalgische Auswahl an: Ajvar aus Mazedonien, Würste aus Sirmien, Olivenöl aus Korčula, »Plasma«-Kekse (die wegen ihres selten blöden Namens im Handumdrehen zu einem Kultprodukt wurden), »Minas«-Kaffee (der allerdings aus der Türkei kam) und die »Negro-Rachenputzer«, Bonbons, die (ebenfalls wegen ihres Namens) ein Kultprodukt waren. Ich nahm ein Glas Ajvar und die Bonbons. Das war ein ritueller, symbolischer Kauf, denn ich vertrug keinen Ajvar und die Bonbons schmeckten bitter.
Tausende und Abertausende Migranten hatten ihre Heimat gegen ein Land wie dieses eingetauscht, dachte ich, um am Ende über einen solchen Markt zu streunen, Ajvar zu kaufen, den sie nicht vertragen, Bonbons, die bitter schmecken, eine Plastiktasche, die sie nie gebrauchen werden, einen albernen Rückenkratzer mit einer kleinen Plastikhand, ein falsches Haarteil …
Wie ein ferngesteuertes Spielzeug lief ich von Albert Cuyp zum Oosterpark, wo sich in einer schmalen Seitenstraße das bosnische Café
Bella
befand. Dort saßen finstere, schweigsame Typen und spielten Karten. Sie musterten mich mit trägen Blicken, die nichts ausdrückten, nicht einmal Erstaunen darüber, dass eine Frau diesen den Männern vorbehaltenen Raum betrat. Ich nahm an der Theke Platz, bestellte »unseren« Kaffee und blieb dort eine Weile sitzen, wie zur Buße. Ich setzte das Gesicht mit der unsichtbaren Ohrfeige auf und nahm die etwas geduckte Haltung an – wie sie.
Mit dem Glas Ajvar aus Mazedonien, den »Negro-Rachenputzern« und der rot-weiß-blau gestreiften Plastiktasche – Reliquien, aufgelesen auf meiner Pilgerfahrt – machte ich mich langsam auf den Weg nach Hause. Mein Herz blutete nicht mehr. Mir war aber nicht klar, ob ich mich von etwas verabschiedet oder ob ich eine imaginäre Beitrittserklärung zu etwas ausgefüllt hatte.
Komm, Schwesterchen, komm, sei nicht dumm …
Vierter Teil
1.
I’m like a stepping razor
Don’t you watch my size
I’m dangerous, I’m dangerous
Treat me good
If you wanna live
You better treat me good
Peter Tosh,
The Stepping Razor
Als es klingelte, wusste ich, dass Igor vor der Tür stand. Ich wusste, er würde kommen, um sich eine Erklärung zu holen. Er kam herein, drehte sich im Zimmer um, als wäre es ihm zu eng, als wüsste er nicht, ob er bleiben solle. Schließlich setzte er seinen Rucksack auf den Boden.
»Das ist also Ihre Bude?«
»Ja, das ist meine ›Bude‹.«
»Ein Zimmerchen, eine winzige Küche und ein Duschbad. Ein kleines Zimmer zwei mal drei«, sagte er ironisch. Das Letztere war ein gesungener Spot einer früheren jugoslawischen Fernsehreklame.
»Ich hoffe, Sie wohnen schöner.«
»So, Sie haben sich also im Keller Ihr Nest gebaut«, sagte er spöttisch.
»Im Souterrain«, sagte ich versöhnlich.
»Sie haben nicht gerade viele Bücher, wenn man bedenkt, dass sie zu Ihrem Beruf
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