Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Kaufmans Film, wie auf der Videokassette stand, 1987 gedreht wurde, dann war, überlegte ich, der Film zwei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer und vier Jahre vor dem Beginn des Krieges in Jugoslawien entstanden, und das bedeutete wiederum, dass ich ihn noch in Zagreb hätte sehen können. Bei dieser chaotischen und sinnlosen Rechnerei wurde mir schwindlig, und ich wusste nicht mehr, in welcher Zeit ich mich befand. Mir ging es so wie den verwilderten japanischen Soldaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg im philippinischen Dschungel herumirrten und die, als man sie fand, fest überzeugt waren, der Krieg sei noch immer im Gange. Alles geriet bei mir durcheinander, die Szenen vermischten, die Filmbänder verhedderten sich, und ich war außerstande, sie zu entwirren. Was weiter weg war, rückte näher, was nahe war, entfernte sich plötzlich. In diesem Durcheinander der Zeiten schien die alte Videokassette mein einziger Kompass zu sein. Ich blickte um mich wie ein Schiffbrüchiger, den es an ein unbekanntes Ufer verschlagen hatte. Ich saß in einer fremden Wohnung, in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, in einem Zimmer mit abgeblätterten Wänden, in einem Loch, das nach Mörtelstaub roch. In der Hand hielt ich die Fernbedienung, aber meine innere Fernbedienung funktionierte nicht mehr, ich drückte hilflos auf die Knöpfe, konnte aber nichts bewegen und nichts stoppen, alles entzog sich meiner Kontrolle. Ich fragte mich, wann das alles stattgefunden haben sollte, wieso ich Kaufmans Film wie eine brandaktuelle TV -Nachricht und den erst vor zwei Jahren geschlossenen brüchigen Frieden von Dayton wie eine weit zurückliegende Geschichte erlebte, die mich kalt ließ?!
Der Schlag von vorhin war viel schwerwiegender, als es auf den ersten Blick aussah. Die Begriffe »Phantomschmerz« oder »Nostalgie« sind willkürliche sprachliche Etiketten, die das Gefühl der Unwiederbringlichkeit und des Verlusts bezeichnen sollen. Und es ist beinahe egal, ob wir uns mit dem Verlust abgefunden haben, ob wir wegen der Entlassung aus der eigenen Vergangenheit erleichtert sind oder ob wir Sehnsucht nach dieser Vergangenheit empfinden – der Schlag ist immer gleich stark. Die Nostalgie, falls das das richtige Wort ist, ist ein brutaler und raffinierter Angreifer, der uns aus dem Hinterhalt, wenn wir am wenigsten damit rechnen, überfällt und uns einen heftigen Schlag in die Magengrube versetzt, von dem uns die Luft wegbleibt. Die Nostalgie tritt in einer Maske auf, und wir sind ironischerweise rein zufällig ihr Ziel. Die Nostalgie erscheint uns in einer, meist falschen, Übersetzung, nachdem sie einen langen Weg zurückgelegt hat wie im Kinderspiel »Stille Post«. Ein Wort, vom Absender seinem Nachbarn ins Ohr geflüstert, durchläuft von einem Ohr zum anderen eine lange Kette und kommt schließlich aus dem Mund des Letzten in der Reihe wie das Kaninchen aus dem Zylinder des Zauberers.
Auch der Schlag, der mir vorhin die Luft nahm, legte einen langen und verschlungenen Weg zurück, er wechselte Mittler, Absender und Medien, ging von einer Hand zur anderen, um am Ende in der Gestalt von Juliette Binoche vor mir zu erscheinen. Sie war die Letzte in der langen Reihe der Übermittler, sie war es, die mir meinen eigenen Schmerz in meine Sprache übersetzte. Nur in diesem Augenblick. Denn schon im nächsten wird die Übersetzung unverständlich. In diesem, und nur in diesem Augenblick haben Kaufmans Filmsequenzen wie eine perfekte Coca-Cola-Werbung einen gekonnten Überraschungsangriff gelandet, der mich in tausend Stücke zerspringen ließ.
Obwohl ich nur auf die »jugoslawische« Story ein
copyright
zu haben glaubte, waren in diesem Augenblick alle Storys »mein«. Ich weinte innerlich, schluchzte über den imaginären Wust der durcheinander geratenen Filmbänder, die willkürliche Etiketten trugen wie
Ost-, Mittel-, Südosteuropa
, jenes
andere
Europa. Alles vermischte sich miteinander, die Millionen Russen, welche in den stalinistischen Lagern verschwanden, und die Millionen, welche im Zweiten Weltkrieg fielen, und die, welche die Tschechen besetzten, und die von den Russen besetzten Tschechen, und die Ungarn, welche von den Russen besetzt wurden, und die Bulgaren, welche die Russen verpflegten, und die Polen und die Rumänen und die ehemaligen Jugoslawen, die sich am Ende selbst besetzten. Ich stieß mit dem Kopf gegen eine Wand allgemeinen menschlichen Verlustes. Ich schluchzte ohne Stimme, beweinte unterschiedslos alle
Weitere Kostenlose Bücher