Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
Uns sieht man selten im Stadtzentrum. Wir bleiben in unserer Zone, hier fühlen wir uns sicher, hier sind wir unter uns.
Wir sind Barbaren, wir sind der doppelte Boden dieser vollkommenen Gesellschaft, die Faust in der Tasche, der Teufel aus der Kiste, wir sind die Fratze, die Parallelwelt, die Halbwelt. Wir steigen über Hundekot und Scheißhaufen, laufen frühmorgens und spät in der Nacht an städtischen Ratten vorbei. Der Wind wirbelt bei uns Abfälle durch die Luft: Plastiktüten, Kaugummipapiere, Reste von Kartoffelchips, Packungen von
Mars, Kit-Kat
und
Snickers
, die unsere Kinder in Mengen verschlingen. Frühmorgens stürzen die Möwen sich gierig auf die Essensreste, die wir hinterlassen, und die Krähen zerren mit ihren kräftigen Schnäbeln an den Schachteln mit Überbleibseln türkischer Pizza.
Unsere jungen Männer sind wild, heimtückisch und zornig. Nachts versammeln sie sich auf leeren Betonplätzen wie Rudel junger Hunde und toben bis spät in die Nacht. Sie jagen einander auf den verwaisten Kinderspielplätzen, wippen auf den Schaukeln, grölen, springen, reißen die Hörer aus den Telefonzellen, schlagen Autoscheiben kaputt, klauen alles, was ihnen in die Finger kommt. Unsere jungen Männer schreien wie die Möwen. Ihre Schreie prallen von den Betonwänden zurück wie Pingpongbälle. Nachts kicken sie leere Dosen, was sich wie Maschinengewehrsalven anhört. Fahren wie besessen auf ihren Motorrädern in menschenleeren Siedlungen im Kreis herum. Die Nacht ist ihre Zeit. Wir zittern, sind mucksmäuschenstill, das Blut in unseren Adern stockt von ihrem Gebrüll.Die Polizei kommt nie in unsere Zonen, sie lässt zu, dass das Geschrei unserer Söhne uns wie Säure zerfrisst. Unsere jungen Männer greifen schnell zum Messer, das Messer ist ein Teil ihrer Hand. Sie sind Großmeister im Spucken. Mit ihrer Spucke markieren sie ihr Revier. Und sie treten immer zusammen auf, in Rudeln, wie Dorfhunde.
Unsere Töchter sind leise. Mit Kopftüchern, gesenktem Blick und Gesichtern, von denen man ihr Unbehagen darüber abliest, dass es sie überhaupt gibt, schweben sie wie Schatten durch die Stadt. Falls sie eine Straßenbahn nehmen, sitzen sie dort demütig mit kleinen Gebetbüchern in der Hand und drehen eifrig heilige Worte in ihren Mündern wie Sonnenblumenkerne. Schnell huschen sie hinaus, ohne nach links oder rechts zu schauen. Im Gehen kauen sie wieder, was sie soeben gelesen haben: anmutig bewegen sie ihre Lippen wie Kamele.
Unsere finster dreinschauenden Männer versammeln sich um die Betonmoscheen mit kleinen türkisfarbenen Kuppeln, die mehr an Kindergärten als an Gebetshäuser erinnern. Im Sommer hocken sie an die Moscheewand gelehnt, reiben ihren Rücken daran, bilden sich ein, einen schattigen Platz ergattert zu haben, obwohl es hier nie Sonne gibt. Sie wuseln herum, beschnuppern sich gegenseitig, drehen sinnlose Runden um die Moschee, spazieren, die Arme auf dem Rücken verschränkt, hin und her, stehen da, tänzeln auf der Stelle, klopfen sich gegenseitig auf die Schulter, umarmen sich zur Begrüßung, umarmen sich zum Abschied. Während der religiösen Feiertage, wenn es in der Moschee keinen Platz mehr gibt, knien sie draußen, auf dem Asphalt, nach Osten gewandt. Unsere Männer knabbern den ganzen Tag an ihrem Gebetshaus wie Hunde an ihren Knochen.
Aber wenn der Himmel sich tief herabsenkt, so tief, dass er unsere Köpfe berührt, wenn der Luftdruck so niedrig und dieLuft so feucht wird, dass das Atmen Mühe bereitet, dann fallen unsere schwer gewordenen Körper zu Boden. Dort gibt es keine Zonen. Alle sind wir dann am Boden, taumeln benommen umher wie im Halbschlaf, wie die Fische zur Laichzeit. Und nur hier, auf dem Boden, geschieht es, dass unsere Schuppen einander streifen, dass sich unsere Schwänze im Vorbeigehen leicht berühren, dass man an die Fischhaut des anderen kommt, dass unsere Kiemen sich an die fremden legen.
Wir sind Barbaren. Wir haben keine eigene Schrift, setzen unsere Unterschrift in den Wind. Wir geben Laute von uns. Wir unterzeichnen mit Schreien, Brüllen, Grölen und Spucken. So markieren wir unser Gebiet. Wir trommeln mit den Fingern auf alles, was wir berühren, auf Mülltonnen, auf Glas und auf Röhren, damit geben wir lautstark Zeugnis von unserer Existenz. Wir lärmen; unser Lärm tut weh wie Zahnschmerz. Wir jammern bei Hochzeiten und wehklagen bei Beerdigungen, die kehligen Stimmen unserer Frauen zerschellen dann an den Betonfassaden. Wir zerbrechen Glas,
Weitere Kostenlose Bücher
Inherit the Dead Online Lesen
von
Jonathan Santlofer
,
Stephen L. Carter
,
Marcia Clark
,
Heather Graham
,
Charlaine Harris
,
Sarah Weinman
,
Alafair Burke
,
John Connolly
,
James Grady
,
Bryan Gruley
,
Val McDermid
,
S. J. Rozan
,
Dana Stabenow
,
Lisa Unger
,
Lee Child
,
Ken Bruen
,
C. J. Box
,
Max Allan Collins
,
Mark Billingham
,
Lawrence Block