Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)

Titel: Das Ministerium der Schmerzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dubravka Ugresic
Vom Netzwerk:
mögen, wenn es knallt, Knallfrösche sind unsere liebste Unterhaltung. Der Laut ist unsere Schrift, der Radau, den wir veranstalten, der einzige Beweis, dass es uns gibt, der Krach die einzige Spur, die wir hinterlassen. Wie die Hunde bellen wir den niedrigen grauen Himmel an, der auf unseren Köpfen lastet.
    Wir sind Schläfer. Menschen unseres Stammes tragen den unsichtbaren Stempel von Kolumbus’ Irrtum auf der Stirn. Wir reisen in den Westen und kommen immer im Osten an. Je weiter westwärts wir gehen, desto östlicher gelangen wir. Auf unserem Stamm lastet ein Fluch. Die Rückkehr in das Land unserer Herkunft ist unser Tod, das Ausharren im Gastland unsere Niederlage. Deswegen lassen wir in unseren Träumen hartnäckig zum tausendsten Mal die Sequenz des Weggehens ablaufen. Denn der Augenblick des Weggehens ist unser einzigerTriumph. Gelegentlich überwältigt uns auf dem kurzen Weg von der Moschee zur Wohnung der Schlaf. Dann setzen wir uns auf eine Bank, unter einen Baum, der sich müht zu wachsen, über uns hängt der neonartige Vollmond, die Luft ist feucht und warm, der Nachthimmel dunkelblau. So schlafen wir in der Betonoase unter einem Betonbaum und lassen im Traum die schon tausendmal wiederholte Sequenz des Weggehens ablaufen, in der wir unsere Zelte abbrechen, unser Gepäck schultern. Plötzlich kommt ein starker Wind und wirbelt den Wüstensand auf. Unsere Umrisse verschwimmen allmählich, bis wir hinter einem dichten Vorhang von Sand verschwinden …

3.
Catch 22 für meine Seele: ob in Bosnien oder irgendwo sonst, mein Herz zerfällt zu Staub,
    voller Mühsal und stürmisch ist die Historie aus Honig, Blut und Sünde:
    Müde sind Mujo und Suljo – sie sind nicht unter der Erde, aber auch nicht auf ihr.
    Wir alle bersten vor Entsetzen und Lachen.
    Ferida Duraković

    Ich stand auf, nahm die erstbeste Kassette aus dem Regal und schob sie in den Videorekorder. Dann kehrte ich zum Sofa zurück, schüttelte leicht die Tapetenreste vom Überwurf und legte mich hin …

    Es war Philip Kaufmans Adaption von
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
. Kunderas Roman hatte ich zweimal gelesen, den Film kannte ich nicht. Gegenüber Literaturverfilmungen bin ich immer skeptisch, auch den besten Film finde ich schlechter als seine literarische Vorlage. Schon die ersten Szenen brachten mich auf. Daniel Day-Lewis sah tschechischer aus als die Tschechen, und Juliette Binoche war echter als viele Tschechinnen. Sie bemühte sich, Englisch wie die Tschechen auszusprechen, aber das gelang ihr nur einmal – beim Titel vonTolstois Roman
Anna Karenina
. Auch die Poetisierung des »kommunistischen Alltags« brachte mich auf die Palme: diese effekthascherischen Aufnahmen von nackten, hässlichen Körpern, die man verschwommen durch einen dichten Dampfnebel sieht; die Szene, in der alt gewordene Männer in einem Schwimmbecken Schach spielen; heruntergekommene tschechische Kurbäder (die haargenau denen in Daruvar oder Pakrac glichen), die Bilder von Prager Straßen (die mich seltsam an die in Zagreb erinnerten). Möglicherweise war meine Gereiztheit nur jene reflexartige Reaktion (Was wissen
die
schon über
uns
!), die ich so oft bei anderen beobachtet hatte und die nichts anderes ist als die Arroganz der »Kolonisierten« und keineswegs tröstlicher als die Arroganz der »Kolonisatoren«. In dieser Aufteilung war der völlig unschuldige Kaufman der Kolonisator eines Territoriums, auf das in diesem Moment allein ich Anspruch hatte.

    Als dann aber die Schwarzweißaufnahmen der russischen Okkupation, des Einzugs der russischen Panzer in Prag über mich herfielen, als ich die Proteste und die Gewalt auf den Straßen Prags sah und dann noch die Großaufnahme eines russischen Soldaten, der seine Pistole auf das Publikum beziehungsweise auf die Binoche richtete, stockte mir der Atem. Die Pistole war auf mich gerichtet. Die Binoche, die einmontiert in die Dokumentaraufnahmen mit dem Fotoapparat in der Hand um russische Panzer herumhüpfte, störte mich nicht mehr. Nicht nur war auf einmal alles »authentisch«, vielmehr hatte ich das Gefühl, dass auf dem Bildschirm meine eigene Geschichte ablief. Tränen kullerten über mein Gesicht …

    Was ist mit mir los, fragte ich mich. Beim Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei war ich erst sechs Jahre alt. Daswar also nicht unbedingt ein Ereignis, mit dem ich mich stark identifizieren konnte. Ich begann fieberhaft zu rechnen: Wenn Kunderas Roman 1984 veröffentlicht und

Weitere Kostenlose Bücher