Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
Vom Netzwerk:
bestimmt nicht verstanden. Er wäre mit fliegenden Fäusten aus dem Haus gestürmt. Es wäre zum Kampf gekommen, und irgendjemand hätte eine noch größere Dummheit begangen als Micker mit seiner Attacke. Dann würde der Baron davon erfahren haben, und die Menschen hätten Heim und Hof verloren. Sie hätten das Kreideland verlassen und in der Ferne, also mindestens zehn Meilen entfernt, unter Fremden ein neues Leben anfangen müssen.
    Als die Katzenmusik allmählich verklang, ging langsam das Scheunentor auf, und Tiffanys Vater schob sich verlegen herein. Er war ein Mann von feinem Instinkt, der im Dorf hohes Ansehen genoss. Doch nun war plötzlich seine Tochter wichtiger als er, eine Hexe, die sich von niemandem dreinreden ließ. Tiffany wusste, dass er von den anderen Männern deswegen aufgezogen wurde.
    Sie lächelte ihn an, und er setzte sich neben sie ins Heu. Die Musik zog wieder ab – hier würde sie niemanden mehr zum Verprügeln, Steinigen oder Aufknüpfen finden. Herr Weh, der von Natur aus ein Mann weniger Worte war, schaute sich schweigend um. Sein Blick fiel auf das in Stroh und Sackleinen gewickelte kleine Bündel, das Tiffany an einer Stelle abgelegt hatte, wo das Mädchen es nicht sehen konnte. »Dann stimmt es also? Sie war in anderen Umständen? «
    »Ja, Papa.«
    Er blickte ins Leere. »Besser, wenn sie ihn nicht finden«, sagte er nach einer gebührenden Pause.
    »Ja«, antwortete Tiffany.
    »Ein paar von den jüngeren Burschen haben gedroht, ihn aufzuhängen. Wir hätten das natürlich verhindert, aber es wäre eine unschöne Sache gewesen. Man hätte für die eine oder andere Seite Partei ergreifen müssen. So was kann ein ganzes Dorf vergiften.«
    »Ja.«
    Sie schwiegen. Nach einer Weile blickte ihr Vater hinunter auf das schlafende Mädchen. »Konntest du ihr helfen?«
    »Ich habe getan, was ich kann«, antwortete Tiffany.
    »Hast du ihr die Schmerzen genommen?«
    Sie seufzte. »Ja, aber ich muss ihr auch noch etwas anderes nehmen. Leihst du mir eine Schaufel, Papa? Ich begrabe das arme Würmchen im Wald, wo es keiner mitbekommt.«
    Er wandte den Blick ab. »Musst du dir das auch noch aufhalsen, Tiff? Und das in deinem Alter. Noch keine Sechzehn, aber ständig auf Trab, um Kranke zu pflegen, Verbände zu wechseln und was weiß ich noch. Du solltest das nicht alles alleine machen müssen.«
    »Ja, ich weiß«, sagte Tiffany.
    »Warum tust du es dann?«, fragte er.
    »Weil es sonst keiner tut. Weil es keiner tun will oder tun kann. Darum.«
    »Aber eigentlich kann man das nicht von dir verlangen.«
    » Ich verlange es von mir. Ich bin eine Hexe. Das gehört nun mal dazu. Das, wofür sich niemand verantwortlich fühlt, ist meine Aufgabe«, sagte Tiffany rasch.
    »Ja, aber wir dachten doch alle, eine Hexe zu sein bedeutet, dass man auf seinem Besen durch die Gegend saust, und nicht, dass man alten Frauen die Zehennägel schneidet. «
    »Die Leute sehen einfach nicht, wo welche Hilfe nötig ist«, erklärte Tiffany. »Sie sind keine schlechten Menschen, sie denken bloß nicht mit. Nehmen wir nur mal die alte Frau Strumpf, die auf der Welt nichts besitzt außer ihrer Katze und ihrer Arthritis. Die Nachbarn haben ihr regelmäßig etwas zu essen gebracht, das stimmt, aber meinst du, einer von ihnen hätte gemerkt, dass sie sich ein Jahr lang die Stiefel nicht mehr ausziehen konnte, weil ihre Zehennägel zu lang geworden waren? Die Leute bringen gern einen Eintopf vorbei oder ab und zu einen Blumenstrauß, aber sobald die Sache ein bisschen unappetitlich wird, ist keiner mehr da. Hexen erkennen sofort, wo etwas nicht stimmt. Klar, wir sausen auch schon mal mit dem Besen durch die Gegend, aber meistens nur, weil wir möglichst schnell irgendwohin wollen, wo Hilfe gebraucht wird.«
    Herr Weh schüttelte den Kopf. »Und das macht dir Freude?«
    »Ja.«
    » Warum ?«
    Während Tiffany darüber nachdachte, ließ ihr Vater sie nicht aus den Augen. »Weißt du noch, was Oma Weh immer gesagt hat?«, antwortete sie schließlich. »›Gib den Hungrigen zu essen, den Nackten was zum Anziehen, und sprich für die, die keine Stimme haben.‹ Meinst du nicht auch, dass in dieser Reihe noch Platz ist für: ›Bück dich für die, die den Rücken nicht mehr krumm machen können, reck dich für die, die sich nicht mehr strecken können, und wisch denen den Hintern ab, die sich nicht mehr umdrehen können.‹ Und manchmal erwischt man einen richtig guten Tag, der einen für die schlimmen Tage entschädigt, und dann

Weitere Kostenlose Bücher