Das Mitternachtskleid
kann man einen Augenblick lang hören, wie die Welt sich dreht. Anders kann ich es nicht erklären.«
Ihr Vater musterte sie mit einem Ausdruck von Stolz, gepaart mit Verständnislosigkeit. »Und dafür lohnt sich die ganze Plackerei?«
»Ja, Papa!«
»Alle Achtung, Jiggit. Was du da leistest, ist richtige Männerarbeit. «
Weil er sie bei dem Kosenamen genannt hatte, den nur ihre Familie kannte – gab sie ihm ein Küsschen. Dass man wohl lange hätte suchen müssen, um einen Mann zu finden, der sich für die Arbeit, die sie machte, nicht zu schade war, behielt sie taktvoll für sich.
»Wie soll es mit den Mickers jetzt weitergehen?«, fragte sie.
»Frau Micker und ihre Tochter können erst mal bei uns unterkommen, und …« Herr Weh hielt inne und warf ihr einen fast furchtsamen Blick zu. »Die Dinge sind nie so einfach, wie man denkt, mein Kind. Seth Micker war kein übler Kerl, als wir noch junge Burschen waren. Nicht gerade die hellste Leuchte, aber auf seine Art ganz in Ordnung. Sein Vater dagegen, der war wirklich nicht ganz richtig im Kopf. Natürlich war man damals nicht so zimperlich wie heute, und wer nicht gehorchte, konnte sich leicht eine Ohrfeige einfangen. Aber Seths Vater hatte einen schweren Ledergürtel mit zwei großen Schnallen. Damit hat er ihn schon verdroschen, wenn Seth ihn nur komisch angeguckt hat. Ungelogen. Er wollte ihm eine Lektion erteilen.«
»Was ihm ja anscheinend auch bestens gelungen ist«, sagte Tiffany, doch ihr Vater hob die Hand und fuhr fort.
»Und dann kam Molly. Wenn ich ehrlich sein soll, kann ich nicht gerade behaupten, dass Molly und Seth wie füreinander geschaffen waren. Eigentlich waren sie für niemanden so richtig geschaffen. Aber sie schienen halbwegs glücklich miteinander. Damals war Seth Schaftreiber, und manchmal musste er die Herden auch ganz bis in die große Stadt bringen. Das ist ein Beruf, für den man nicht besonders viel zwischen den Ohren zu haben braucht, und es ist durchaus möglich, dass das eine oder andere Schaf klüger war als er, aber es war eine Arbeit, die irgendeiner machen musste. Immerhin hat er sein Geld damit verdient, und keiner hat ihn deswegen scheel angeguckt. Das Dumme war bloß, dass er Molly oft wochenlang allein lassen musste, und …« Er sah sie verlegen an.
»Den Rest kann ich mir schon denken«, sprang Tiffany ihm bei, doch er überhörte sie geflissentlich.
»Nicht, dass sie ein liederliches Frauenzimmer gewesen wäre«, sagte er. »Sie wusste nur nicht, wo‘s langgeht, und es hat ihr auch keiner erklärt. Jedenfalls kamen damals alle naselang irgendwelche Fremden durchs Dorf. Fahrendes Volk und so. Richtig schneidige Burschen zum Teil.«
Es tat Tiffany in der Seele weh, mit anzusehen, wie er sich quälte, weil er seiner Tochter Dinge erzählen musste, über die sein kleines Mädchen doch eigentlich noch gar nicht Bescheid wissen sollte.
Sie drückte ihm noch einen Kuss auf die Wange. »Ich weiß , Papa, ich weiß es wirklich. Amber ist in Wahrheit gar nicht seine Tochter, richtig?«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber möglich ist alles«, antwortete er gepresst.
Womöglich war genau das der springende Punkt, dachte Tiffany. Wenn Seth Micker Gewissheit gehabt hätte, so oder so, hätte er vielleicht besser damit umgehen können. Vielleicht. Ganz auszuschließen war es jedenfalls nicht.
Doch er hatte immer mit seinen Zweifeln leben müssen – an manchen Tagen von seiner Vaterschaft überzeugt, an anderen von den schlimmsten Verdächtigungen gepeinigt. Bei einem Mann wie Micker, für den »denken« ein Fremdwort war, konnte es nicht ausbleiben, dass sich die finsteren Gedanken in seinem Kopf verhedderten, bis sein Verstand völlig lahmgelegt war. Und wenn das Hirn nicht mehr weiterweiß, tritt die Faust in Aktion.
Ihr Vater betrachtete sie forschend. »Du weißt wirklich, wovon ich rede?«, fragte er.
»Das kenne ich von meinen Hausbesuchen. So heißt das, was wir Hexen machen. Bitte begreif doch, Papa. Ich sehe die schrecklichsten Dinge, und die allerschrecklichsten sind die, die am normalsten sind. Die kleinen Geheimnisse hinter verschlossenen Türen, Papa. Gutes und Schlechtes, wovon ich dir lieber nichts erzähle. Aber das gehört eben zum Hexenberuf dazu! Man bekommt ein Gespür dafür.«
»Na, für unsereins ist das Leben nun auch nicht gerade ein Zuckerschlecken …«, sagte ihr Vater. »Früher zum Beispiel – «
»Da war diese alte Frau. Sie wohnte in der Nähe von Schnitte«, fiel Tiffany ihm ins
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