Das Mitternachtskleid
ähnliche, aber wütender klingende Stimme. »Welchen Teil von ›Keiner sagt ‘n Wort‹ haste nich kapiert? Potzblitz aber auch!«
Der letzte Ausruf wurde von den Geräuschen eines Handgemenges untermalt.
Herr Weh sah nervös nach oben und beugte sich zu Tiffany hinüber. »Weißt du eigentlich, wie sehr sich deine Mutter um dich sorgt? Jetzt ist sie gerade wieder Oma geworden. Sie ist sehr stolz auf ihre ganze Familie. Und auf dich natürlich auch«, fügte er rasch hinzu. »Aber welcher junge Mann will schon eine Frau, die hexen kann? Und nachdem es mit dir und Roland nun …«
Tiffany ging auf diese Andeutung nicht ein. Hexen mussten viel schlucken können. Doch ihr Vater sah dabei so geknickt aus, dass sie ihr fröhliches Gesicht aufsetzte und sagte: »Ich schlage vor, du gehst jetzt nach Hause und schläfst dich erst mal richtig aus. Den Rest kannst du ruhig mir überlassen. Da drüben liegt sogar ein Strick, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den jetzt nicht mehr brauchen werde.«
Sie sah ihm seine Erleichterung an. Wer die Wir-sind-die-Größten nicht näher kannte, hatte einen Heidenrespekt vor ihnen. Aber wenn Tiffany es sich recht überlegte, war es völlig egal, wie lange man schon mit ihnen zu tun hatte: Das Leben stand Kopf, sobald ein Größter darin auftauchte.
»Seid ihr etwa schon die ganze Zeit hier?«, fragte sie, nachdem sich ihr Vater eilig verabschiedet hatte.
Sogleich regnete es Heu und einen ganzen Haufen Größte.
Natürlich konnte man sich über die Wir-sind-die-Größten aufregen, aber das brachte ungefähr genauso viel, als würde man sich über ein Stück Pappe oder das Wetter aufregen: gar nichts. Tiffany stauchte sie trotzdem zusammen. Das hatte bei ihnen mittlerweile Tradition.
»Rob Irgendwer! Ihr habt versprochen, mir nicht mehr nachzuspionieren!«
Rob hob die Hand. »Schon wahr, schon wahr. Aber da hast du wohl trotzdem was Mist verstanden, Meisterin. Wir ham nämlich überhaupt nich spioniert, was, Jungs?«
Das rot-blaue Gewusel, das sich inzwischen über den Boden der Scheune verteilt hatte, erhob die Stimme zu einem Chor himmelschreiender Lügen und Ausreden. Erst als sie Tiffanys Miene sahen, flaute der Sturm der Entrüstung wieder ab.
»Ich würde zu gern wissen, Rob Irgendwer, warum du immer weiterlügst, auch wenn man dich auf frischer Tat ertappt hat.«
»Ach, die Antwort is einfach«, sagte der Große Mann der Größten. »Wozu soll denn das Lügen nützen, wenn man sich gar nix vorzuwerfen hat? Jedenfalls bin ich jetzt zu Tode beleidigt. Das geht einem ja durch Mark und Pfennig, wie du meinen guten Namen in den Dreck gezogen hast.« Er grinste. »Wie oft hab ich dich denn schon angelogen?«
»Siebenhundertunddreiundfünfzig Mal«, antwortete Tiffany. »Jedes Mal, wenn du mir versprochen hast, dich nicht mehr in meine Angelegenheiten zu mischen.«
»Schön und gut. Aber du bis‘ schließlich unsre große kleine Hexe.«
»Das lassen wir mal dahingestellt sein«, sagte Tiffany von oben herab. »Außerdem bin ich inzwischen erheblich größer und wesentlich weniger klein als früher.«
»Unsere große alte Hexe«, krähte eine fröhliche Stimme, die nur dem Doofen Wullie gehören konnte. Niemand sonst war dazu fähig, sich bis Oberkante Unterlippe in die Nesseln zu setzen. Tiffany sah in sein treuherziges Gesicht hinunter.
Alte Hexe, wie sich das anhörte! Aber für die Größten war jede Hexe eine alte Hexe, ganz egal, wie jung. Sie meinten es nicht böse – obwohl man das bei ihnen nie so genau wissen konnte. Manchmal grinste Rob Irgendwer, wenn er sie so nannte. Jeder andere, der größer war als ein Kobold, stellte sich unter einer alten Hexe jemanden vor, der sich die Haare mit einer Harke kämmte und schlechtere Zähne hatte als ein greises Schaf. Mit neun Jahren als alte Hexe bezeichnet zu werden, kann witzig sein. Mit fast sechzehn findet man es nicht mehr ganz so lustig, vor allem dann nicht, wenn man einen sehr anstrengenden Tag hinter sich hat, kaum zum Schlafen gekommen ist und wirklich dringend mal wieder ein Bad nehmen müsste.
Rob Irgendwer, dem ihre Reaktion offensichtlich nicht entgangen war, knöpfte sich seinen Bruder vor. »Wie oft muss ich dir das noch sagen? Manchmal wärs klüger, du würdest deinen Kopf innen Entenarsch schieben, statt die Klappe so weit aufzureißen.«
Der Doofe Wullie sah auf seine Füße. »‘tschuldige, Rob. Ich konnt grad keine Ente auftreiben.«
Der Anführer der Größten warf einen Blick auf das
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