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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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so rasend schnell drehten, dass von ihnen nur ein flirrender, silberner Kreis zu sehen war … bis ein Arbeiter einmal nicht richtig aufpasste. Dann wurde der silberne Kreis zur roten Scheibe, und es regnete Finger.
    Genau so fühlte sich Tiffany. Sie musste sich wahnsinnig konzentrieren, doch diese Frau hörte und hörte nicht auf zu reden, während die Schmerzen nur auf einen kurzen Augenblick der Unachtsamkeit lauerten. Also dann: Es ging nicht anders. Sie schleuderte die Schmerzen gegen einen Kerzenständer neben dem Bett, der sofort in tausend Stücke zersprang. Der Docht der Kerze fing Feuer. Tiffany stampfte die Flamme aus und drehte sich zu der erstaunten Pflegerin um.
    »Fräulein Proper, so interessant Ihre Ansichten auch sein mögen, mir sind sie momentan herzlich schnuppe. Von mir aus können Sie gern zusehen, Fräulein Proper, aber das hier ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, die für mich gefährlich werden kann. Gehen Sie, Fräulein Proper, oder bleiben Sie, aber vor allem, Fräulein Proper, halten Sie die Klappe. Das war nämlich erst der Anfang. Ich muss noch viel mehr Schmerzen umleiten.«
    Fräulein Proper fixierte sie. Mit einem Blick, von dem einem angst und bange werden konnte.
    Tiffany konterte entsprechend. Was vernichtende Blicke angeht, macht einer Hexe so leicht keiner etwas vor.
    Die entrüstete Pflegerin knallte die Tür hinter sich zu.
    »Sprich leise – sie lauscht am Schlüsselloch.«
    Es war die Stimme des Barons, auch wenn sie kaum mehr als solche zu erkennen war. Es lag noch die leise Ahnung eines gebieterischen Tonfalls darin, doch sie klang so schwach und brüchig, als ob jedes Wort für das nächste um eine Gnadenfrist flehte.
    »Bitte, Herr Baron, ich muss mich konzentrieren. Wir wollen doch nicht, dass etwas schiefgeht.«
    »Schon gut. Ich werde schweigen.«
    Allmählich kam wieder Leben in das graue Greisengesicht – für Tiffany der schönste Lohn für ihre gefährliche, schwierige und auch sehr anstrengende Aufgabe. Seine Haut schimmerte rosig, und je mehr Schmerzen aus ihm heraus, durch Tiffany hindurch und in den neuen unsichtbaren Ball über ihrer Schulter strömten, desto voller wurden seine eingefallenen Wangen.
    Gleichgewicht. Auf das Gleichgewicht kam es an. Das war eine ihrer ersten Lektionen gewesen: Die Mitte der Wippe ist weder oben noch unten, aber Oben und Unten fließen durch sie hindurch, während sie selbst stets unbewegt bleibt. Man musste die Mitte der Wippe sein, damit die Schmerzen durch einen hindurch- und nicht in einen hineinflossen. Es war sehr schwierig. Doch Tiffany beherrschte diese Kunst. Darauf konnte sie stolz sein. Sogar Oma Wetterwachs hatte ein anerkennendes Knurren von sich gegeben, nachdem Tiffany den Trick gemeistert hatte. Und ein Knurren von Oma Wetterwachs war so viel wert wie tosender Beifall vom Rest der Welt.
    Der Baron lächelte. »Vielen Dank, Fräulein Tiffany Weh. Und jetzt würde ich mich gern in meinen Sessel setzen.«
    Tiffany überlegte. Es war eine ungewöhnliche Bitte. »Meinen Sie wirklich, gnädiger Herr? Sie sind noch sehr schwach.«
    »Ja, das höre ich von allen Seiten«, antwortete der Baron mit einer abwehrenden Handbewegung. »Als ob ich es nicht selbst wüsste. Hilf mir hoch, Fräulein Tiffany Weh, denn ich muss mit dir reden.«
    Kein Problem. Für ein Mädchen, das einen Herrn Micker aus dem Bett wuchten konnte, war der Baron ein Kinderspiel. Er war so leicht und zerbrechlich wie eine zarte Porzellanfigur.
    »Wie mir scheint, haben du und ich in all der Zeit, die du mich nun schon pflegst, kaum mehr als das Nötigste miteinander gesprochen. Sehe ich das richtig, Fräulein Tiffany Weh?«, fragte er, nachdem sie ihm seinen Gehstock gebracht hatte, damit er sich aufstützen konnte. Es wäre dem Baron niemals eingefallen, sich in einem Sessel zurückzulehnen, wenn er auch auf der Kante sitzen konnte.
    »Doch, ich denke, das sehen Sie richtig, gnädiger Herr«, sagte Tiffany vorsichtig.
    »Ich habe geträumt, dass ich gestern Nacht Besuch hatte«, begann der Baron mit einem spitzbübischen Grinsen. »Was sagst du dazu, Fräulein Tiffany Weh?«
    »Erst mal noch gar nichts, gnädiger Herr«, antwortete Tiffany und dachte: Hoffentlich nicht von den Wir-sind-die-Größten. Bitte nicht!
    »Ich hatte Besuch von deiner Großmutter, Fräulein Tiffany Weh. Sie war eine großartige Frau, und obendrein eine ausgesprochen schöne Erscheinung. Ja, ja. Es war ein schwerer Schlag für mich, dass sie deinen Großvater

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