Das Mitternachtskleid
geheiratet hat, aber vermutlich war es so das Beste. Sie fehlt mir.«
»Sie fehlt Ihnen?«, sagte Tiffany.
Der alte Mann lächelte. »Nach dem Tod meiner lieben Frau war sie der einzige Mensch, der den Mut hatte, mir Kontra zu geben. Ganz gleich, wie mächtig ein Mann ist und wie viel Verantwortung er zu tragen hat, hin und wieder braucht er jemanden, der ihn zurechtstutzt, wenn er sich wie ein Dummkopf aufführt. Und Oma Weh hat aus ihrem Herzen wahrlich nie eine Mördergrube gemacht, das muss man ihr lassen. Zum Glück, denn ich habe mich so oft wie ein Hornochse aufgeführt, dass ich – metaphorisch gesprochen – einen Tritt in den Arsch dringend nötig hatte. Ich hege die Hoffnung, dass du, wenn ich unter der Erde liege, meinem Sohn Roland den gleichen Dienst erweisen wirst, Fräulein Tiffany Weh. Da er manchmal an hochgradiger Selbstüberschätzung leidet, kann er ebenfalls jemanden brauchen, der ihm, metaphorisch gesprochen – oder, wenn er es zu weit treibt, auch durchaus wörtlich genommen – in den Arsch tritt.«
Um ein Schmunzeln zu kaschieren, rückte Tiffany erst einmal den Schmerzensball zurecht, der sich zutraulich über ihrer Schulter drehte. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, gnädiger Herr. Ich werde mein Möglichstes tun.«
Der Baron hüstelte. »Eine Zeitlang hegte ich sogar die leise Hoffnung, dass ihr beide euch … noch ein gutes Stück näherkommen würdet.«
»Wir sind Freunde«, antwortete Tiffany bedächtig. »Und ich hoffe, das werden wir auch bleiben: gute Freunde.« Sie musste sich eilig auf die Schmerzen konzentrieren, die gefährlich ins Trudeln geraten waren.
Der Baron nickte. »Famos, famos, Fräulein Tiffany Weh. Aber lass dich von diesen Freundschaftsbanden bitte nicht daran hindern, ihm einen anständigen Tritt in den Arsch zu verpassen, wenn er einen verdient hat.«
»Es soll mir ein Vergnügen sein«, antwortete Tiffany.
»Bravo, junge Dame«, sagte der Baron. »Und ich danke dir, dass du mich nicht zurechtweist, weil ich das Wort ›Arsch‹ in den Mund genommen habe. Und dass du mich nicht gefragt hast, was ›metaphorisch‹ bedeutet.«
»Gern geschehen, gnädiger Herr. Ich weiß, was metaphorisch bedeutet, und Arsch ist ein Begriff aus dem Volksmund – daran ist nichts auszusetzen.«
Der Baron nickte. »Er hat etwas so erfrischend Erwachsenes an sich. ›Hintern‹ taugt doch wohl eher für alte Jungfern und kleine Kinder.«
Tiffany probierte die Ausdrücke ein paar Mal hin und her und sagte dann: »Ja, damit dürften Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben.«
»Prächtig. Dabei fällt mir etwas ein, Fräulein Tiffany Weh. Mir ist nicht entgangen, dass du seit einiger Zeit keinen Hofknicks mehr vor mir machst. Ich würde gern den Grund dafür erfahren.«
»Ich bin jetzt eine Hexe, gnädiger Herr. Und Hexen knicksen nicht.«
»Aber ich bin dein Baron, junge Dame.«
»Ja. Und ich bin Ihre Hexe.«
»Ich könnte jederzeit meine Soldaten herbeibeordern. Und dir ist doch gewiss auch bekannt, dass Hexen hierzulande nicht unbedingt wohlgelitten sind.«
»Ja, gnädiger Herr. Das ist mir bekannt. Und ich bin Ihre Hexe.«
In seinen blassblauen Augen lag ein listiges Funkeln.
Tiffany wusste, dass sie jetzt keine Schwäche zeigen durfte. Der Baron war wie Oma Wetterwachs: Er stellte auch alle Leute auf die Probe.
Er lachte, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wie ich sehe, hast du deinen eigenen Kopf, Fräulein Tiffany Weh.«
»Na, ich weiß nicht so recht, gnädiger Herr. In letzter Zeit kommt es mir eher so vor, als hätte ich meinen Kopf nur noch für andere.«
»Ha«, sagte der Baron. »Wie man hört, bist du sehr fleißig und gewissenhaft.«
»Ich bin eine Hexe.«
»Ja, das sagtest du bereits – klar und deutlich und ohne Angst vor Wiederholungen.« Er stützte sich mit seinen knochigen Händen auf den Gehstock und sah sie darüber hinweg an. »Dann ist es also wahr«, sagte er, »dass du vor rund sieben Jahren mit einer eisernen Bratpfanne bewaffnet ins Märchenland marschiert bist und meinen Sohn vor der Elfenkönigin gerettet hast – einer höchst unangenehmen Person, wie man mir zugetragen hat.«
Tiffany zögerte kurz. »Möchten Sie, dass es so war?« Der Baron lachte leise und zeigte mit seinem dürren Finger auf sie. »Ob ich das möchte? Fürwahr! Eine gute Frage, Fräulein Tiffany Weh, deines Zeichens Hexe. Lass mich überlegen … Sagen wir, ich möchte die Wahrheit wissen.«
»Also, das mit der Bratpfanne stimmt, das gebe ich zu.
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