Das Mitternachtskleid
Verzeihung, was ich bei ihr auch öfter hätte machen sollen. Würdest du mir bitte nichtsdestotrotz die Güte und Ehre erweisen, den Beutel anzunehmen, Fräulein Tiffany Weh? Führe seinen Inhalt zum Andenken an mich solchen Zwecken zu, die du für angemessen hältst. So viel Geld hast du zweifellos noch nie gesehen.«
»Ich bekomme überhaupt fast nie Geld zu sehen«, entgegnete sie verdattert.
Der Baron stieß noch einmal seinen Stock auf den Boden, als wollte er ihr applaudieren. »Geld wie dieses mit Sicherheit nicht«, sagte er vergnügt. »Es ist nämlich so. Der Beutel enthält zwar nur fünfzehn Dollar, aber es sind nicht die Dollars, die du kennst, beziehungsweise kennen würdest, wenn du hin und wieder mal welche in die Finger bekommen würdest. Es sind alte Dollars, noch aus der Zeit, bevor das Herumgepfusche an unserer Währung losging. Der moderne Dollar besteht in meinen Augen zum größten Teil aus Messing, und er enthält ungefähr genauso viel Gold wie Meerwasser. Diese Münzen dagegen sind der wahre Jakob. Falls du mir diesen kleinen Scherz gestattest.«
Tiffany gestattete ihm seinen kleinen Scherz, weil sie ihn sowieso nicht verstanden hatte. Der Baron amüsierte sich über ihre Verwirrung. »Kurzum, Fräulein Tiffany Weh, wenn du mit diesen Münzen zu dem richtigen Händler gehst, gibt er dir dafür… ach, ich schätze mal, um die fünftausend Ankh-Morpork-Dollar. Wie viele ausgelatschte Stiefel man dafür bekommt, weiß ich nicht, aber wenn du das gesamte Geld in einen einzigen investieren wolltest, könntest du dir davon vermutlich einen alten Stiefel von der Größe dieser Burg kaufen.«
Und Tiffany dachte: Das kann ich nicht annehmen. Zu allem Überfluss konnte sie den Beutel kaum noch halten, so schwer war er geworden. Sie sagte: »Das ist viel zu viel für eine Hexe.«
»Aber nicht zu viel für einen Sohn«, antwortete der Baron. »Nicht zu viel für einen Erben, nicht zu viel für den Erhalt einer Ahnenreihe. Nicht zu viel dafür, eine Lüge aus der Welt geschafft zu haben.«
»Ein zweites Paar Hände kann ich mir dafür trotzdem nicht kaufen«, sagte Tiffany. »Und man kann auch keine einzige Sekunde der Vergangenheit damit ändern.«
»Dennoch muss ich darauf bestehen, dass du es annimmst«, sagte der Baron. »Wenn nicht um deinetwillen, dann wenigstens mir zuliebe. Du würdest mir eine große Last von der Seele nehmen – und die hat es dringend nötig, dass sie ein bisschen auf Vordermann gebracht wird. Immerhin werde ich bald sterben, nicht wahr?«
»Ja, gnädiger Herr. Schon sehr bald, denke ich.«
Tiffany verstand immer besser, was für ein Mensch der Baron war. Deshalb wunderte es sie auch nicht, dass er lachte.
»Weißt du was?«, fragte er. »Die meisten Leute hätten jetzt gesagt: ›Ach was, alter Knabe, du stirbst noch lange nicht. Im Handumdrehen bist du wieder auf den Beinen. Du bist doch noch springlebendig!‹«
»Ja, gnädiger Herr. Aber ich bin eine Hexe.«
»Und das bedeutet in diesem Kontext …?«
»Dass ich mir alle Mühe gebe, nicht lügen zu müssen.«
Der alte Mann verlagerte sein Gewicht und wurde plötzlich ernst. »Wenn meine Zeit gekommen ist …« Er brach ab.
»Werde ich bei Ihnen sein, wenn Sie das wünschen«, antwortete Tiffany.
Der Baron machte ein erleichtertes Gesicht. »Hast du den Tod schon gesehen?«
Sie hatte die Frage erwartet und die passende Antwort parat. »Normalerweise spürt man nur, wenn er vorübergeht, aber ich habe ihn schon zwei Mal leibhaftig gesehen, falls man das von einem Gerippe sagen kann. Jedenfalls ist er ein Knochenmann mit einer Sense, genau wie in den Büchern – wahrscheinlich sieht er nur deshalb so aus, weil er immer so abgebildet wird. Er war höflich, aber streng, gnädiger Herr.«
»Das glaub‘ ich gern!« Nach einer kurzen Pause fuhr der alte Mann fort: »Hat er … hat er irgendwelche Andeutungen über das Jenseits gemacht?«
»Ja, gnädiger Herr. Anscheinend gibt es dort keinen Senf, und ich hatte den Eindruck, dass es dort wohl auch keine Essiggurken gibt.«
»Tatsächlich? Das ist aber ein ziemlich harter Schlag. Dann brauche ich mir vermutlich auf Chutney erst gar keine Hoffnungen zu machen, oder?«
»Ich habe das Thema nicht weiter vertieft, gnädiger Herr. Er hatte eine ziemlich große Sense.«
Es klopfte an der Tür, und die Pflegerin rief: »Ist alles in Ordnung, Herr Baron?«
»Könnte gar nicht besser sein, mein wertes Fräulein Proper«, antwortete der Baron, dann senkte er
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