Das Mitternachtskleid
antwortete Tiffany. »Fragt sich bloß, was das zu bedeuten hat.«
»Ich habe mir mal ein paar von den Männern zur Brust genommen«, sagte ihr Vater. »Und deine Mutter hat sich mit den Frauen beraten. In Zukunft wollen wir gemeinsam ein wachsames Auge auf die Mickers halten. Wir haben die Zügel viel zu lange schleifen lassen. Es kann nicht immer alles an dir hängen bleiben. Die Leute sollen sich gar nicht erst einbilden, dass du schon alles wieder ins Reine bringst. Und dasselbe gilt auch für dich, hör auf meinen Rat. Bei manchen Sachen muss das ganze Dorf mit anpacken.«
»Danke, Papa«, sagte Tiffany. »Aber ich muss jetzt schleunigst zum Baron.«
Tiffany konnte sich kaum daran erinnern, dass der Baron jemals gesund gewesen war. Dabei schien niemand zu wissen, was ihm eigentlich fehlte. Doch in einem war er genau wie viele andere Schwerkranke, die sie kannte: Er gab nicht auf. Er hielt durch in einer Warteschleife, an deren Ende der Tod stand.
Ein Dorfbewohner hatte einmal über ihn gesagt, er sei wie eine Tür, die knarrte und knarrte, aber nicht ins Schloss fiel. Doch in letzter Zeit ging es zusehends mit ihm bergab, und Tiffany befürchtete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis seine Lebenstür endgültig zufiel.
Wenigstens konnte sie ihm die Schmerzen nehmen und sie sogar so weit einschüchtern, dass sie ihn für eine Weile in Ruhe ließen.
Tiffany eilte zur Burg, wo schon Fräulein Proper, die Krankenpflegerin, mit bleichem Gesicht auf sie wartete.
»Er hat heute keinen guten Tag«, sagte sie und fügte mit einem bescheidenen Lächeln hinzu: »Ich habe den ganzen Morgen für ihn gebetet.«
»Das war sehr freundlich von Ihnen.« Obwohl Tiffany sich jeden Anflug von Sarkasmus verkniffen hatte, fing sie sich für ihren Bemerkung trotzdem ein Stirnrunzeln ein.
Das Krankenzimmer roch wie jedes andere Krankenzimmer: viel zu sehr nach Mensch, nicht genug nach Luft. Die Pflegerin blieb wie ein Wachtposten in der Tür stehen. Tiffany spürte ihren ewig misstrauischen Blick im Nacken. Seit einiger Zeit schlug ihr zunehmend ein solcher Argwohn entgegen. Durchziehende Wanderpriester, die gegen Hexen wetterten, fanden bei den Dorfbewohnern immer öfter ein offenes Ohr. Die Welt, in der die Menschen lebten, schien eine sehr sonderbare zu sein. Alle wussten, dass Hexen kleine Kinder raubten, die Ernte verhagelten und was es dergleichen Unsinn sonst noch gab. Gleichzeitig kamen sie aber schnurstracks zur Hexe gelaufen, wenn sie Hilfe brauchten.
Der Baron lag unter einem Deckenberg, das Gesicht grau, die letzten verbliebenen Haarbüschel schlohweiß. Trotzdem machte er einen gepflegten Eindruck. Er hatte immer sehr auf sein Äußeres geachtet, und er ließ jeden Morgen einen Mann von der Wache antreten, um sich von ihm rasieren zu lassen. Das munterte ihn etwas auf, soweit man das beurteilen konnte, aber jetzt starrte er nur stumpf durch Tiffany hindurch. Sie kannte es nicht anders. Der Baron war ein »Mann von echtem Schrot und Korn«, stolz und leicht aufbrausend, aber eine wahre Kämpfernatur. Für ihn waren die Schmerzen ein Grobian, der ihn schikanierte, und was machte man mit Grobianen? Man bot ihnen die Stirn, bis sie klein beigaben und das Weite suchten. Leider wussten die Schmerzen nichts von dieser Regel. Sie quälten ihn nur umso mehr. Der Baron lag da mit schmalen, weißen Lippen, und Tiffany konnte hören, wie er nicht schrie.
Sie nahm neben ihm auf einem Hocker Platz, lockerte ihre Finger, holte tief Luft und empfing die Schmerzen – rief sie aus dem siechen Körper heraus und steckte sie in den unsichtbaren Ball, der knapp über ihrer Schulter schwebte.
»Ich halte nichts von Zauberei«, stellte die Pflegerin fest.
Tiffany zuckte zusammen, wie eine Seiltänzerin, der jemand mit einem schweren Knüppel aufs Seil geschlagen hat. Vorsichtig beruhigte sie den aufgewühlten Strom der Schmerzen.
»Natürlich geht es ihm hinterher immer besser«, sagte Fräulein Proper. »Aber man macht sich doch so seine Gedanken, wo diese Heilkräfte eigentlich herkommen.«
»Vielleicht von Ihren vielen Gebeten, Fräulein Proper«, säuselte Tiffany. Der Gesichtsausdruck der Pflegerin war mit Gold nicht zu bezahlen.
Aber Fräulein Proper hatte eine Elefantenhaut. »Wir wollen uns doch nicht mit dunklen, dämonischen Mächten einlassen. Besser ein paar Schmerzen in dieser Welt als ewiges Leid in der nächsten!«
Oben in den Bergen gab es wasserbetriebene Sägemühlen mit großen Kreissägen, die sich
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