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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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oder nicht, damit stand und fiel die ganze Hexerei. Der Grund war Folgender: Eine Hexe, die nach alter Hexentradition fast immer allein arbeitete, wurde irgendwann ein wenig… sonderbar. Natürlich hing das auch immer von der Dauer des Alleinlebens und der seelischen Belastbarkeit der jeweiligen Hexe ab, aber früher oder später konnte es passieren, dass sie Richtig und Falsch, Gut und Böse, Wahrheit und Pflicht durcheinanderbrachte. Das war alles andere als ungefährlich. Deshalb sorgten die Hexen gegenseitig dafür, dass niemand den Verstand verlor – oder zumindest das, was als normaler Hexenverstand durchging. Dazu brauchte es nicht viel: ein Teekränzchen, einen Liederabend oder einen Spaziergang im Wald. Mehr war nicht nötig, um das innere Gleichgewicht wiederherzustellen. Danach konnten sie sich auch wieder Prospekte mit Lebkuchenhäusern ansehen, ohne sofort eine Anzahlung zu leisten.
    Als hätte Tiffany nicht schon genug Sorgen, musste sie zudem noch befürchten, wunderlich zu werden. Seit zwei Monaten war sie jetzt nicht mehr oben in den Bergen gewesen, und Fräulein Tick – die einzige andere Hexe, die es hin und wieder ins Kreideland verschlug – hatte sie bestimmt schon seit drei Monaten nicht mehr gesehen. Ihr fehlte einfach die Zeit, ihre Kolleginnen zu besuchen. Die Arbeit riss nie ab. Aber vielleicht war genau das das Geheimnis, dachte Tiffany. Wenn man dafür sorgte, dass man immer etwas zu tun hatte, blieb einem gar keine Zeit wunderlich zu werden.
     
    Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie wieder bei den Größten landete. Zu ihrem Schrecken saß Amber, vergnügt lachend, inmitten einer Koboldschar draußen, neben dem Hügel. Während Tiffany den Besen noch im Dornengestrüpp parkte, wurde sie von der Kelda bereits erwartet.
    »Du hast doch hoffentlich nichts dagegen?«, fragte sie, als sie Tiffanys Gesicht sah. »Die Sonne ist eine großartige Heilerin.«
    »Jeannie, es war herzensgut von dir, dass du ihr den Seelentrost gegeben hast, aber sie soll euch möglichst wenig zu Gesicht bekommen. Sonst erzählt sie es vielleicht noch überall herum.«
    »Ach was. Das Ganze wird ihr wie ein Traum vorkommen, dafür sorgt schon der Seelentrost«, antwortete die Kelda gelassen. »Und wer hört denn überhaupt hin, wenn ein kleines Mädchen was von irgendwelchen Feen plappert?«
    »Sie ist dreizehn!«, entgegnete Tiffany. »Sie ist doch kein kleines Kind mehr!«
    »Ist sie denn nicht glücklich?«
    »Doch, schon, aber …«
    Ein stählerner Blick trat in Jeannies Augen. Sie hatte Tiffany immer mit Respekt behandelt, doch das galt nur, solange diese Haltung auf Gegenseitigkeit beruhte. Schließlich war sie die Herrin dieser Höhle und wahrscheinlich sogar des gesamten Umlandes.
    Tiffany begnügte sich mit dem Einwand: »Ihre Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen.«
    »Ach ja?«, sagte die Kelda. »Und weil sie sich so große Sorgen macht, hat sie wohl auch zugelassen, dass ihr Mann Amber halb totschlägt, ja?«
    Etwas weniger gescheit wäre sie Tiffany eigentlich lieber gewesen. Sie selbst musste sich oft genug sagen lassen, ihr Verstand sei so messerscharf, dass sie sich eines Tages noch daran schneiden würde, aber mit dem unbeirrbaren Blick der Kelda hätte man ohne Weiteres Eisennägel köpfen können.
    »Na ja, Ambers Mutter ist … nicht gerade … die Hellste.« »Das hat sich schon bis zu mir rumgesprochen«, sagte Jeannie. »Die meisten Tiere haben auch nicht allzu viel im Kopf, aber trotzdem stellt sich die Hirschkuh schützend vor ihr Kalb, trotzdem verteidigt die Füchsin ihren Welpen gegen den Hund.«
    »Die Menschen sind komplizierter«, sagte Tiffany.
    »Sieht so aus.« Die Stimme der Kelda war frostig geworden. »Nun gut, der Seelentrost tut seine Wirkung. Dann muss die Kleine jetzt wohl wieder zurück in eure komplizierte Welt.«
    Wo ihr Vater noch am Leben ist, dachte Tiffany. Das weiß ich genau. Zwar hat er ein paar Prellungen abbekommen, aber er hat geatmet. Und bald wird er auch wieder nüchtern sein. Das will ich zumindest schwer hoffen. Wie soll ich nur einen Ausweg aus dieser Geschichte finden? Aber es muss eine Lösung geben! Ich hab auch noch andere Sachen zu tun! Und heute Nachmittag muss ich zum Baron!
     
    Herr Weh kam ihnen schon entgegen. Tiffany hatte den Besen wie immer draußen vor dem Hof an einen Baum gebunden – theoretisch, um die Hühner nicht zu erschrecken, aber praktisch, weil sie einfach keine elegante Landung hinbekam und dabei auf gar keinen

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