Das Mitternachtskleid
der Mobilien so verwirrt, dass du für ihn überall und nirgends zugleich zu sein scheinst. Dann wird er bald verschwinden und versuchen, deine Fährte woanders wieder aufzunehmen. Und unterwegs braucht er Nahrung. Er wird in den Kopf irgendeines Narren eindringen, und schon beginnt irgendwo die Jagd auf eine alte Frau oder auf ein Mädchen, das sich mit gefährlichen Kultsymbolen geschmückt hat, ohne die leiseste Ahnung zu haben, was sie eigentlich bedeuten. Wollen wir hoffen, dass sie schnell rennen können.«
Tiffany blickte sich verwirrt um. »Und das ist dann alles meine Schuld, ja?«
»Höre ich da das sarkastische Gejammer eines kleinen Mädchens oder die rhetorische Frage einer Hexe mit eigenem Revier?«
Tiffany verkniff sich eine Antwort. »Sie können doch durch die Zeit reisen, nicht wahr?«, fragte sie stattdessen zurück.
»Ja.«
»Dann wissen Sie meine Antwort ja schon.«
»Na, ganz so einfach ist es denn doch nicht«, sagte Eskarina und machte ein leicht verlegenes Gesicht, was Tiffany einerseits überraschte, anderseits aber auch – wir wollen es nicht verschweigen – ein kleines bisschen freute. »Ich weiß, dass – lass mich mal überschlagen – fünfzehn verschiedene Antworten möglich sind, die du mir geben könntest, doch für welche du dich entscheiden wirst, kann ich erst sagen, wenn es so weit ist. Das hat mit der elastischen Stringtheorie zu tun.«
»Dann begnüge ich mich mit einem herzlichen Dankeschön«, sagte Tiffany. »Danke, dass Sie sich so viel Zeit für mich genommen haben. Aber ich muss jetzt langsam weiter; die Arbeit wartet auf mich. Wissen Sie vielleicht die Zeit?«
»Ich kann sie dir sogar definieren: Die Zeit ist eine der hypothetisch angenommenen Dimensionen des vierdimensionalen Raums. Aber dir reicht bestimmt schon die Auskunft, dass es Viertel vor elf ist.«
Bevor Tiffany anmerken konnte, dass dies aber eine furchtbar komplizierte Antwort auf eine simple Frage war, stürzte plötzlich der Wirrwarr in sich zusammen. Die Tür flog auf und eine Schar Hühner kam hereingestürmt – die allerdings nicht explodierten.
Eskarina griff nach Tiffanys Hand und rief: »Er hat dich gefunden! Ich weiß auch nicht, wie!«
Ein Huhn, das halb hüpfend, halb flatternd, halb taumelnd auf den Resten des Wirrwarrs landete, krähte ein lautes Kikeripotzblitz !
Dann explodierte die ganze Schar – und heraus kamen Größte.
Im Grunde gibt es keinen großen Unterschied zwischen Hühnern und Größten, da beide gern im Kreis herumlaufen und Krach machen. In einem wichtigen Punkt unterscheiden sie sich aber doch: Hühner sind selten bewaffnet, die Größten immer. Sobald sie die letzten Federn abgeschüttelt hatten, gingen sie aus Verlegenheit aufeinander los – und zum Zeitvertreib.
Eskarina warf nur einen kurzen Blick auf die Größten, dann trat sie hinter sich ein Loch in die Wand, durch das ein Mensch auf Händen und Füßen gerade eben hindurchkriechen konnte. »Geh!«, donnerte sie Tiffany an. »Lock ihn von hier weg. Schwing dich so bald wie möglich auf deinen Besen und verschwinde! Mach dir um mich keine Gedanken! Und hab keine Angst, du schaffst das schon! Du musst dir nur selber helfen!«
Dichter, beißender Rauch quoll in den Raum. »Was meinen Sie damit?«, fragte Tiffany, während sie mit ihrem Besen kämpfte.
»Lauf!«
Nicht einmal Oma Wetterwachs konnte Tiffanys Beinen derart Beine machen.
Sie lief.
9
Die Herzogin und die Köchin
Tiffany flog gern. Sie war nur nicht so gern in der Luft, vor allem nicht in Überkopfhöhe. Aber ihr blieb gar nichts anderes übrig, wenn sie nicht die gesamte Hexenzunft blamieren wollte. Es war einfach zu lächerlich und peinlich, ständig dabei gesehen zu werden, wie sie so niedrig flog, dass sie mit den Absätzen die Ameisenhaufen köpfte. Die Leute lachten sie aus, und manchmal zeigten sie auch mit dem Finger auf sie. Während Tiffany den Besen durch das Gewirr aus verfallenen Häusern und düsteren, blubbernden Tümpeln hindurchsteuerte, sehnte sie sich nach der Weite des Himmels. Ihr fiel ein Stein vom Herzen, als sie endlich hinter einem Stapel zersplitterter Spiegel im hellen Tageslicht herauskam – ungeachtet der Tatsache, dass sie sich neben einem Schild wiederfand, auf dem stand: WER DAS LIEST, IST VIEL, VIEL ZU NAH DRAN.
Jetzt reichte es ihr. Sie zog den Besen hoch, bis er eine Furche in den Schlamm zog, und hob ab wie eine Rakete, mit aller Kraft an den bedenklich knarrenden Gurt geklammert. Ein Stimmchen
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