Das Mitternachtskleid
nur einem Exemplar pro Käufer.«
Mit sich selbst hochzufrieden ließ Frau Prust den Kopf wieder zu Boden sacken. Aber sie musste wohl oder übel einsehen, dass ein bewusstloser Kunde nun einmal leider gar nichts kauft, weshalb sie den vormaligen Knüppelschwinger, der leise vor sich hinächzte, nur noch mit einem letzten, verächtlichen Blick bedachte. Sicher, es war alles die Schuld des Tückischen, und vielleicht konnte man das als Entschuldigung gelten lassen. Aber man musste nicht, und Frau Prust war nicht gerade für ihr verzeihendes Wesen bekannt. »Hetze findet immer ein offenes Ohr«, sagte sie zu sich. Sie schnippte mit den Fingern, bestieg das Bronzepferd und pflanzte sich auf Lord Rusts kalten, aber bequemen Schoß. Klirrend und knarrend stapfte das Ross hinein in die Nebelwand, die auf dem ganzen Weg bis zum Laden nicht von ihnen wich.
Hinter ihnen in der Gasse aber sah es plötzlich so aus, als ob es schneite – bis man merkte, dass sich das, was da vom Himmel auf die beiden Bewusstlosen herabfiel, zuvor in den Darmtrakten der Tauben befunden hatte, die auf Frau Prusts Geheiß aus allen Ecken und Winkeln der Stadt herbeigeflogen kamen. Als sie ihr Geschrei hörte, lächelte sie grimmig. »So kann man auch mit kleinen Sachen sich selber eine Freude machen«, sagte sie genüsslich.
Tiffany fühlte sich schon besser, nachdem sie den Gestank und Qualm der Stadt endlich hinter sich gelassen hatte. Wie konnten die Leute nur damit leben? Der Mief war schlimmer als der in der Gürteltasche eines Größten.
Doch nun lagen wieder Äcker und Wiesen unter ihr, und obwohl der Rauch der brennenden Stoppelfelder bis zu ihr heraufreichte, war es – verglichen mit der stinkenden Welt innerhalb der Stadtmauern – der reinste Wohlgeruch.
Und Eskarina Schmied wohnte mittendrin … zumindest hin und wieder.
Eskarina Schmied! Es gab sie also wirklich! Tiffanys Gedanken rasten fast so schnell wie ihr Besen. Eskarina Schmied! Jede Hexe hatte schon von ihr gehört, aber keine zwei Hexen erzählten sich das Gleiche über sie.
Fräulein Tick hatte gesagt, Eskarina sei das Mädchen, das den Stab eines Zauberers nur aus Versehen bekommen habe!
Die erste Hexe, die je von Oma Wetterwachs ausgebildet worden war! Die von ihr an der Unsichtbaren Universität untergebracht wurde, nachdem sie – Oma Wetterwachs – den Zauberern den Marsch geblasen hatte. Und zwar gehörig, wenn man ihren Geschichten glauben konnte, in denen auch magische Duelle vorkamen.
Fräulein Grad hatte Tiffany versichert, Eskarina sei so etwas wie ein Märchen.
Fräulein Verrat hatte das Thema gewechselt.
Nanny Ogg hatte sich verschwörerisch an die Nase getippt und ihr zugeraunt: »Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.«
Und Annagramma hatte den jungen Hexen von ihrem hohen Ross herab verkündet, Eskarina habe gelebt, sei aber tot.
Doch es gab eine Geschichte, die sich hartnäckig hielt, die sich um Wahrheit wie Lüge gleichermaßen rankte, wie Geißblatt. Diese Geschichte erzählte der Welt, dass Eskarina an der Universität einen jungen Mann namens Simon kennenlernte, den die Götter mit so ziemlich jedem Gebrechen geschlagen hatten, das die Menschheit überhaupt kannte. Da die Götter aber einen gewissen – wenn auch etwas abartigen – Sinn für Humor besitzen, verliehen sie ihm gleichzeitig die Macht, alles, aber auch wirklich alles zu verstehen. Er konnte ohne fremde Hilfe kaum laufen, doch er war so genial, dass er das gesamte Universum im Kopf hatte.
Zauberer mit Bärten, die so lang waren, dass sie auf dem Boden schleiften, scharten sich um ihn, um ihm zu lauschen, wenn er über Raum und Zeit und Magie redete, als ob sie alle Teil eines Ganzen wären. Und die junge Eskarina hatte ihn gefüttert, gewaschen, begleitet und von ihm alles, aber auch wirklich alles gelernt.
Man munkelte, sie hätte Geheimnisse ergründet, die selbst die mächtigste Magie wie einen billigen Zaubertrick aussehen ließen. Und die Geschichte war wahr! Tiffany hatte mit ihr geredet und Küchlein gegessen. Es gab also tatsächlich eine Frau, die nicht nur durch die Zeit wandern, sondern ihr sogar Befehle erteilen konnte. Wow!
Ja, und Eskarina hatte etwas sehr Merkwürdiges an sich – sie machte den Eindruck, nicht ganz da, aber dafür überall gleichzeitig zu sein. Und bei diesem Gedanken tauchte am Horizont das Kreideland auf, schattenhaft und geheimnisvoll, wie ein gestrandeter Wal. Obwohl es noch weit weg war, machte Tiffanys Herz einen Satz. Das war ihr
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