Das Mörderschiff
war. Aber wie tief? Zwanzig Meter? Fünfundzwanzig Meter? Dreißig Meter? Ich versuchte mir die Seekarte des Sunds von Torbay vorzustellen. An der tiefsten Stelle des Kanals – und der Kanal kam hier ziemlich nah an die Südküste der Insel heran – war er etwa hundertfünfzig Meter tief. Das heißt, daß das Ufer hier ziemlich abschüssig sein mußte. Mein Gott, vielleicht war ich sogar vierzig Meter tief. Wenn das der Fall war, dann war nichts mehr zu machen. Aus. Wie waren doch gleich die Vorschriften über Druckentlastung? Ist ein Mensch zehn Minuten lang einem Druck von vierzig Meter Tiefe ausgesetzt, dann sind bei seinem Aufstieg an die Oberfläche zehn Minuten einer langsamen Druckentlastung erforderlich. Wenn man unter Druck Luft einatmet, dann sammelt sich der überflüssige Stickstoff in den Geweben, und wenn man nach oben steigt, wird dieser Stickstoff vom Blutstrom aufgenommen, in die Lungen gepumpt und dann langsam durch den Atem ausgeschieden. Wenn man aber zu schnell auftaucht, dann kann die Ausscheidung nicht mithalten, und der Stickstoff bildet Blasen im Blut, wovon die äußerst schmerzhaften Drucklufterkrankungen der Taucher herrühren, die einen Menschen oft auf Lebenszeit verkrüppeln. Selbst bei dreißig Metern würde ich mindestens eine Ruheperiode von sechs Minuten zur Druckentlastung benötigen. Es war aber klar, daß eine Druckentlastung für mich überhaupt nicht in Frage kam. Ich würde auf Lebenszeit ein Krüppel sein. Ganz plötzlich war für mich die Vorstellung des Auftauchens, trotz der oben wartenden Menschen mit schußbereiten Gewehren, ganz verlockend im Vergleich zu dem, was sonst mit mir geschehen würde. Ich pumpte mich noch einmal mit soviel Sauerstoff wie möglich voll, atmete dann aus, holte noch einmal tief Atem, um auch den letzten Kubikmillimeter der äußersten Lungenspitzen zu füllen, tauchte ins Wasser und stieß mich durch die herausgebrochene Tür hinaus. So langsam wie möglich stieg ich an die Oberfläche empor.
Ich hatte bereits auf dem Weg nach unten jeglichen Zeitbegriff verloren, und genauso erging es mir jetzt wieder bei meinem Weg nach oben. Ich schwamm ruhig und stetig und verwandte dabei genausoviel Kraft, wie nötig war, um langsam nach oben zu kommen. Aber nicht soviel, daß ich den ganzen Sauerstoff verbrauchte. Alle paar Sekunden ließ ich ein wenig Luft aus dem Mund, nicht zuviel, gerade so viel, um den Druck in meinen Lungen zu regulieren. Ich sah nach oben, aber die Wassermassen über mir waren schwarz wie Tinte. Es mußten mindestens fünfzig Meter Wasser über mir sein. Ich konnte keine Spur von Licht wahrnehmen. Und dann ganz plötzlich, einen kurzen Augenblick ehe mein Luftvorrat verbraucht war und ehe meine Lungen wieder zu schmerzen anfingen, war das Wasser nicht mehr ganz so schwarz, und mein Kopf stieß gegen etwas Hartes, das nicht nachgab. Ich griff danach, hielt mich fest und tauchte auf, atmete die kalte, salzige, wundervolle Luft ein und wartete darauf, daß die Luftausgleichsschmerzen beginnen würden, diese scharfen, schmerzhaften Krämpfe in den Gelenken. Es kamen aber keine. Ich konnte auf keinen Fall tiefer als fünfundzwanzig Meter gewesen sein, und selbst dann hätte ich etwas spüren müssen. Vielleicht waren es sogar weniger als zwanzig Meter gewesen.
Während der letzten zehn Minuten hatte mein Verstand mindestens soviel Schläge versetzt bekommen wie jeder andere Körperteil, aber er hätte sich in einem noch viel schlechteren Zustand befinden müssen, wenn ich nicht erkannt hätte, woran ich mich festhielt. Es war das Steuer eines Bootes, und wenn noch eine Bestätigung nötig gewesen wäre, dann hätte ich sie durch die langsam sich drehenden beiden Schrauben erhalten, die einen guten halben Meter von mir entfernt waren und das Wasser milchig-durchsichtig machten. Ich war direkt unter ihrem Boot aufgetaucht. Ich hatte wirklich Glück gehabt. Ich hätte genausogut unter einer der Schrauben auftauchen können, und dabei wäre mir glatt der Kopf gespalten worden. Selbst jetzt, falls der Mann am Steuer sich entschließen sollte, plötzlich rückwärts zu fahren, konnte ich noch in den Sog einer Bootsschraube gelangen und würde dann so aussehen wie etwas, was gerade durch einen Mixapparat gedreht worden war. Aber ich hatte bereits zuviel durchgemacht, um noch Angst zu haben.
Vorn an der Steuerbordseite konnte ich das Riff sehen, auf dem wir abgestürzt waren. Es wurde vom Bootsdeck her von zwei starken Scheinwerfern
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