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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Als Nil nun in die geschlossene Kutsche stieg, erinnerten ihn seine Leute noch ein letztes Mal daran, dass die Fenster geschlossen bleiben müssten, damit sein Blick auf nichts Unglück bringendes falle – an einem solchen Tag treffe man besser jede nur mögliche Vorsichtsmaßnahme.
    Die Kutsche war langsam und brauchte fast eine Stunde von Lalbazar zum neuen Gerichtsgebäude an der Esplanade, wo Nil der Prozess gemacht werden sollte. Dort angekommen, wurde Nil schnell durch das feuchte, düstere Gebäude geführt, vorbei an dem Gewölbe, in dem die meisten Häftlinge auf ihre Verhandlung warteten. Die Flure füllten sich mit ihren gezischelten Vermutungen, wer Nil wohl sei und was er getan habe.
    Die Gepflogenheiten der Zamindars waren diesen Männern nicht unbekannt.
    »Wenn das der ist, der meinen Sohn zum Krüppel gemacht hat, dann könnten mich die Gitterstäbe hier nicht halten …«
    »Wenn ich den in die Finger kriege …«
    »Bringt mir den Pflug von meinem brachliegenden Acker, damit ich dem Kerl den Arsch aufreißen kann …«
    Der Weg zum Gerichtssaal führte mehrere Treppen hinauf und durch zahlreiche Flure. Der Lärm, der durch das Gebäude hallte, verriet, dass die Verhandlung eine große Menschenmenge angelockt hatte. Nil wusste um das öffentliche Interesse an seinem Fall, doch auf den Anblick, der sich ihm bot,
als er den Schauplatz seines Prozesses betrat, war er in keiner Weise vorbereitet.
    Der Gerichtssaal hatte die Form einer halbierten Schüssel. Der Zeugenstand befand sich unten, die Zuschauerreihen stiegen im Halbrund steil an. Als Nil eintrat, verstummte das Stimmengewirr schlagartig, und die letzten Geräusche sanken wie die ausgefransten Enden eines Bandes sacht zu Boden, darunter ein vernehmliches Flüstern: »Ah, der Rascally-Roger! Na, endlich.«
    Die ersten Reihen waren von Weißen besetzt, unter ihnen Mr. Doughty, dahinter saßen bis zu den Oberlichtern hinauf Nils Freunde, Bekannte und Verwandte. Auf einem Blick sah er die Mitglieder des bengalischen Grundbesitzerverbandes und die zahllosen Verwandten, die ihn auf seinem Hochzeitszug begleitet hatten. Es war, als hätten sich sämtliche männlichen Angehörigen der bengalischen Grundbesitzerklasse hier versammelt, um seinen Prozess zu verfolgen.
    Nil schaute zur Seite und erblickte Mr. Rowbotham, seinen Anwalt. Er hatte sich erhoben, begrüßte Nil betont zuversichtlich und geleitete ihn feierlich an seinen Platz. Kaum hatte Nil sich gesetzt, stießen die Gerichtsdiener ihre Stäbe auf den Boden, um das Erscheinen des Richters anzukündigen. Nil erhob sich wieder und stand wie die anderen einen Moment lang mit gesenktem Kopf da, und als er aufschaute, sah er, dass der Mann, der den Vorsitz führen würde, niemand anderer war als Richter Kendalbushe. Er wusste, dass der Richter ein Freund von Mr. Burnham war, und fragte Mr. Rowbotham beunruhigt: »Ist das wirklich Richter Kendalbushe? Steht er nicht in enger Verbindung zu Mr. Burnham?«
    Mr. Rowbotham spitzte die Lippen und nickte. »Das mag so sein, aber ich bin überzeugt, er ist ein Mann von unbestechlicher Gerechtigkeit.«

    Nils Augen wanderten zur Geschworenenbank, und er tauschte mit mehreren der Männer ein Nicken aus. Von den zwölf Engländern hatten mindestens acht seinen Vater, den alten Raja, gekannt, und mehrere waren zu dem Fest anlässlich der Reiszeremonie seines Sohnes geladen gewesen. Sie hatten Geschenke aus Silber und Gold gebracht, verzierte Löffel und filigrane Becher; einer hatte dem kleinen Raj Rattan einen chinesischen Abakus aus Ebenholz und Jade geschenkt.
    Mr. Rowbotham hatte Nil aufmerksam beobachtet und beugte sich nun zu ihm hin. »Es gibt leider eine etwas unangenehme Neuigkeit …«, flüsterte er ihm ins Ohr.
    »So?«, sagte Nil. »Nämlich?«
    »Ich habe heute Morgen eine offizielle Mitteilung vom Anklagevertreter erhalten. Man will ein neues Beweisstück vorlegen, eine eidesstattliche Erklärung.«
    »Von wem?«, fragte Nil.
    »Von einer Dame – einer Frau, sollte ich besser sagen –, die behauptet, eine Liaison mit Ihnen gehabt zu haben. Es scheint sich um eine Tänzerin zu handeln …« Mr. Rowbotham blickte angelegentlich auf ein Blatt Papier hinab. »Es handelt sich um eine gewisse Elokeshi.«
    Nils ungläubiger Blick schweifte ab, zurück zur Menge der Zuschauer. Ganz hinten saß der älteste Bruder seiner Frau. Einen kurzen, aber beklemmenden Moment lang fragte sich Nil, ob auch Malati gekommen war, doch dann sah er mit großer

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