Das Molekular-Café
denen, die hier arbeiten, hat auch nur die leiseste Vorstellung vom Problem. Dazu ist man zu vorsichtig.«
»Wer ist ›man‹?«
»Die, die uns bezahlen.«
»Latiani?«
»Latiani ist ein Bauer, eine vorgeschobene Figur. Bestimmt kennt auch er die eigentlichen Chefs nicht.«
»Warum wird denn alles so – geheimgehalten?«
Dorik zuckte die Achseln. »Das hängt wohl mit der Art des Problems zusammen.«
»Und was machen Sie hier?« fragte Rong.
»Seit heute nichts mehr. Ich bin entlassen worden, wegen mangelnder Einbildungskraft. Ich habe zuwenig Phantasie.«
Wieder schlug Dorik mit der Faust gegen die Trennwand.
»Sehen Sie? Da ist er, der Parasit, der sich von unsern Gehirnsäften ernährt. Ein arrogantes, gemütsarmes Vieh! Was bedeuten schon wir Ameisen gegen das Ekel, das hinter diesem durchsichtigen Panzer versteckt ist! Obendrein ist es unsterblich!«
»Na wissen Sie«, sagte Rong, »jede Maschine hat doch…«
»Schauen Sie!« Dorik zeigte mit dem Finger. »Sehen Sie die Schildkröten dort?«
Rongs Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger. In dem Gewirr von Leuchtbirnen, Kondensatoren und Widerständen bewegten sich zwei kleine Apparate, die wie Panzer aussahen.
»Ja, ich sehe.«
»Sämtliche Systeme der Maschine existieren doppelt. Wenn in einem von ihnen irgendein Element ausfällt, schaltet sich automatisch das Reservesystem ein. Die Schildkröte, die sich in der Nähe der Havariestelle befindet, baut das defekte Teil aus und setzt ein neues ein; die Ersatzteile holt sie aus den Speichern, die über die ganze Maschine verstreut sind. Toll, was?«
»Interessant.«
»Das ist meine Erfindung«, sagte Dorik stolz. »Absolute Sicherheit des ganzen Systems. Na, machen Sie’s gut! Schließlich dürfen Sie gar nicht mit mir reden. Wenn Latiani davon erfährt, gibt es Unannehmlichkeiten. Wissen Sie was?« Er senkte die Stimme bis zum Flüstern. »Ich rate Ihnen: Machen Sie sich schleunigst aus dem Staube! Glauben Sie meiner Erfahrung, das kann kein gutes Ende nehmen.«
Dorik zog ein kariertes Schnupftuch aus der Tasche, stieß einen Trompetenton hinein und schritt winkend dem Ausgang zu.
Denk nicht an Dorik, denk nicht an Kirby, denk nicht an Latiani, denk nur an wissenschaftliche Probleme. Je kühner die Annahmen, desto besser. Denke, denke, denke. Denk nicht an Dorik… Rong blickte auf die Uhr: Gott sei Dank! Der Arbeitstag war zu Ende, er konnte nach Hause gehen.
Als er schon kurz vor dem Ausgang war, wurde plötzlich eine Tür aufgerissen, und eine junge Frau kam taumelig in den Korridor.
»Noda, du?«
»Ah, Dan! Du bist also auch hier?«
»Was machst du denn hier?« fragte Rong. »Arbeitest du
nicht mehr an der Universität?«
»Das ist eine lange Geschichte, Dan. Noda Storn existiert
nicht mehr. Es gibt nur noch die Chrysantheme, und die dient
der Maschine als Mathematikerin. Die Schönheit, der Stolz
des Problems.« Sie grinste schief.
Erst jetzt fiel Rong auf, daß ihr Gesicht leichenblaß aussah
und ihre Pupillen unnatürlich erweitert waren.
»Was hast du, Noda?«
»Nichts weiter! Das kommt vom Heroin. In der letzten
Woche hab’ ich zuviel davon genommen. Aber ich hab’ auch
was geliefert dafür! Eine Phantasmagorie im
sechsdimensionalen Raum. Huch, mir ist schwindlig!« Sie
wankte und hielt sich an Rongs Schulter fest.
»Komm«, sagte er und nahm sie am Arm. »Ich bringe dich
nach Hause. Du bist krank.«
»Ich will nicht nach Hause. Dort… Hörst du, Dan, hast du
auch manchmal Halluzinationen?«
»Vorläufig noch nicht.«
»Aber ich habe welche. Bestimmt vom Heroin.«
»Du mußt sofort ins Bett.«
»Ich will nicht ins Bett. Ich habe Hunger. Schließlich habe
ich drei Tage nichts… Bring mich irgendwohin, wo man was
essen kann. Hauptsache, da sind Menschen und – Musik.« Noda aß angewidert ein paar Löffel Suppe und schob dann
den Teller zurück.
»Ich kann nicht mehr. Hör mal, Dan, wie bist du denn
dorthin geraten?«
»Eigentlich ganz zufällig. Und du, bist du schon lange da?« »Ja, schon über sechs Monate.«
»Aber warum? Deine Stellung an der Universität…« »Oh, Dan! Das hat schon vor langer Zeit angefangen, als ich
noch studierte. Erinnerst du dich an unsere geselligen
Abende? Aus kindischer Bravour nahmen wir Rauschgift. So
bin ich da hineingeraten. Die wissen doch alles, haben mich
wahrscheinlich beobachten lassen. Dann boten sie mir die
Stellung an. Die Bezahlung ist nobel, und Heroin gibt’s
soviel man will. Früher hab’ ich nicht kapiert, was da vor sich
geht, aber jetzt
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