Das Monopol
Macht und Größe des Gotteshauses förmlich erschlagen. Wie er stundenlang durch die Kirche gewandert war und jedes Standbild betrachtet, jede Inschrift studiert hatte. Das mit Edelsteinen besetzte goldene Kruzifix, das er über dem Altar zu finden erwartete, hatte sich als schlichte weiße Taube erwiesen, die vor einem gelben Bleiglasfenster schwebte: Das Zeichen des Heiligen Geistes, der der Menschheit den Frieden brachte. Alle Zweifel, die Benedetti bezüglich seiner Berufung zum Priester gehegt hatte, waren vor dieser Taube hinfällig geworden.
Nun folgte Benedetti dem jungen Amerikaner durch das Langschiff, bis sie vor dem Päpstlichen Altar standen, hundertneunzehn Meter unter der prachtvollen Kuppel. »Das ist der Altar des heiligen Petrus«, erklärte Benedetti und kam damit Carltons Frage zuvor. »Nur sein Nachfolger, der Heilige Vater, darf hier die Messe lesen.« Er deutete auf ein Goldkästchen, das mit Stein überzogen war und in tiefem Gelb glühte. »Die Reliquien von Sankt Peter, dem ersten Papst.«
In einer kleineren Kirche wären die Worte von einem Echo zurückgeworfen worden, doch in der gewaltigen Weite des Doms wurden sämtliche Laute verschluckt. Benedetti beobachtete, wie Carlton ehrfürchtig vor dem Päpstlichen Altar niederkniete und zu beten begann. Allein schritt er weiter zum Hochaltar, kniete in einer der dunklen Bankreihen unter der weißen Taube nieder und holte einen Rosenkranz aus der Tasche. Seit dem Tag seiner Priesterweihe hatte diese Kette aus einfachen Fichtenholzkugeln und grobem Garn Benedetti begleitet.
Er schlug das Kreuzzeichen und neigte den Kopf. Pater noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum.
Nachdem er fünfmal zehn Perlen gebetet hatte, stand Benedetti nicht auf, sondern verharrte in der Ehrfurcht gebietenden Stille des Doms. Carlton hat Recht, dachte er. Die Zeit läuft uns davon. Bald schon werden Kontoberichte und Akten und Safes der Banco Napolitana Lucchese von der Guarda di Finanza untersucht werden, weil sie nach Beweisen gegen Arcangelo suchen. Dann finden sie auch die Diamanten des verstorbenen Kardinals Altiplano im Schließfach seines Ordens.
Benedetti stand auf, steckte den Rosenkranz ein und ging zum Papstaltar zurück. Dort kniete Carlton immer noch. Seit einer halben Stunde hielt er den Kopf in demütiger Hingabe gesenkt. Mit gedämpfter Stimme betete er das Vaterunser, das Ave Maria und die Fürbitten. Er hörte Benedettis Schritte nicht einmal. Der war von dem schlichten Glauben des jungen Amerikaners tief berührt. Im Grunde waren Kirche und Religion eins: Das Wichtigste war der Glaube.
Wie der Anblick der weißen Taube über dem Hochaltar vor so vielen Jahren, wischte auch der Anblick des demütig betenden Carlton Benedettis Zweifel beiseite. Er schaute zu der weißen Taube auf und nickte.
Gratia Deo.
Benedetti kniete neben Carlton und stupste ihn leicht an.
Carlton drehte sich erschrocken um. »Eminenz …?«
Der Kardinal holte tief Luft. »Nun, da wir beide gebetet haben, muss ich Ihnen etwas beichten.«
Carlton lächelte. »Sollte das nicht eher andersherum sein?«
»Nein.« Der Kardinal wandte den Blick von Carltons lachenden Augen ab. »Ich habe gelogen, mein Sohn.«
Carlton wartete gespannt.
»Als Sie mich heute Morgen nach einem Diamantenbestand fragten, habe ich Ihnen geantwortet, dass so etwas bei der Vatikanbank undenkbar ist.«
»Ja.«
»Das stimmte im Grunde auch, war aber dennoch eine Lüge.«
Carlton blickte den Kardinal fragend an.
»Die Vatikanbank hat keine Diamanten gekauft, den Verkauf auch nicht gestattet. Aber ein Kirchenbeamter hat es getan. Ohne Zertifikat. Die Diamanten wurden in Angola erworben. Und es waren nicht fünf Millionen Karat, sondern neun Millionen.«
Carlton riss vor Staunen die Augen weit auf.
Benedetti nickte langsam und zerrte an dem schweren goldenen Kreuz, das er um den Hals trug. »Verzeihen Sie mir.«
74.
Die Erklärung
Piazza del Popolo
Rom, 10.01 Uhr
In seinem behaglichen Kaschmirmantel – auch ein Geschenk von MacLean – trat Carlton aus dem Hotel, stieg die Spanische Treppe hinab, wandte sich auf der Piazza di Spagna nach rechts und ging zwei Querstraßen weiter zur Piazza del Popolo. Der Platz war dicht bevölkert, selbst an einem so kalten und grauen Wintermorgen. Carlton blickte sich um und entdeckte den Namen »Rosati« auf einer rosafarbenen Markise. Die Hände tief in den Taschen vergraben, ging er zu dem Café. Sowohl die eingefriedete Terrasse
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