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Das Monopol

Titel: Das Monopol Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Kublicki
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verbliebenen Soldaten und Offiziere bekamen nur den Grundsold - wenn überhaupt. Da sie gezwungen waren, ohne Unterstützung der Regierung zu überleben, hatten viele keine andere Wahl, als ihre Dienste und Waffen dem Meistbietenden zu verkaufen - nicht selten an Terrorregimes wie beispielsweise dem Iran.
    Die Korruption wurde zur Institution. Schmuggel wurde nicht nur toleriert, man ermutigte sogar dazu. Der Rubel verlor so stark an Wert, dass amerikanische Dollar zur einzigen akzeptablen Währung avancierten. Straßen wurden nicht mehr in Stand gehalten. Öffentliche Gebäude verfielen. Straßenbahnwaggons und Busse wurden ausgeschlachtet. Wenngleich die Wirtschaft sich unter Orlow allmählich erholte, mussten strenge Reformen noch einige Jahre in Kraft bleiben, bevor das Schlimmste überstanden war.
    In Wladiwostok und vielen anderen Städten Russlands litt das Volk bittere Not. Es hatte zu lange gewartet. Seit der Zarenzeit, unter Lenin, Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow, Tschernenko, Gorbatschow und schließlich unter den so genannten Reformern hatte man dem Volk erklärt, es müsse warten. Geduld haben. Nur noch ein bisschen ausharren. Den Schmerz ertragen wie gute Russen. Doch das Volk hatte genug. Genug Geduld gezeigt. Genug Schmerz ertragen. Obwohl es gewillt war, schlimmer und länger zu leiden als irgendein anderes Volk der Welt, hatten die Russen genug. Sie wollten Taten sehen, keine Versprechungen hören. Sie sehnten sich nach einem wirklichen politischen Neuerer, einem Mann mit eiserner Faust, der Russland aus dem Sumpf befreite, in dem es seit Peter dem Großen versunken war. Einer, der die unheilvollen Kräfte des Auslands ausmerzte, die dem rodina den Lebenssaft aussaugten. Eine Vaterfigur, bei der sich das Volk geborgen fühlte und der dem alten Zarenreich, der ehemaligen Supermacht, wieder zur Größe verhelfen sollte.
    Dies waren die Gedanken von Jewgeni Wilinowsky auf seinem Weg über den Wladiwostoker Fischmarkt. Keiner kannte Wilinowsky bei seinem wahren Namen. Er war bekannt als Molotok, der »Hammer«. Wie Stalin, der »Stählerne«, war Molotok ein Name, auf den die Menschen ansprangen. Er war ein Riese. Hoch gewachsen und muskulös wie ein abgehärteter Schauermann, der gewaltige Lasten heben konnte, Übermenschliches leistete und nur von blutigem Fleisch, Kartoffeln, Brot und Wodka lebte. Sein langes schwarzes Haar wehte im Wind. Er trug einen dichten schwarzen Schnurrbart. Seine rote geäderte Nase verriet seine Vorliebe für das russische Nationalgetränk. Molotok trug die schlichte Kleidung der Landbevölkerung: Hosen aus dunkler, rauer Wolle, die er in schwere Lederstiefel stopfte, dazu einen pelzgefütterten Ledermantel.
    Molotoks Herkunft war ein Geheimnis. Es schien, als hätte es ihn immer schon gegeben, als wäre er aus den Tiefen der russischen Seele aufgestiegen - aus dem fruchtbaren Boden des russischen Vaterlandes; aus dem mächtigen, uralten Nationalbewusst- sein. Es war etwas Mystisches an diesem Mann mit den glühenden schwarzen Augen. Obwohl die meisten Russen seine Partei kannten, die »Russkost« hieß - »Russentum«-, hatten doch nur wenige ihren Führer zu Gesicht bekommen. Er stand nicht im Rampenlicht wie andere Politiker, die sich wie Marionetten und Huren vor Fernsehkameras spreizten. Molotok tauchte aus dem Dunkel auf und verschwand wieder, doch jedes Mal verlieh er dem Schmerz des Volkes auf eine Weise Ausdruck, wie kein anderer es konnte. Viele leidende, ungeduldige Russen glaubten, Molotok sei gleichsam aus der wilden Weite Sibiriens erschienen, um die Seele der Heiligen Mutter Russland aus den Händen ihrer inneren und äußeren Feinde zurückzufordern.
    An diesem grauen Nachmittag stand Molotok auf einem derben Holztisch inmitten der Marktstände voller frischer Meeresfrüchte. Hinter ihm im Hafenbecken schaukelten die blassblauen Schiffe der einst so mächtigen Pazifikflotte.
    »Schar an Schar die Geister eilen, auf nach oben, himmelwärts, und ihr Winseln und ihr Heulen, es zerreißt mir fast das Herz...«
    Die unsterblichen Worte Alexander Puschkins tönten aus den Lautsprechern, die Molotoks hiesige Anhänger rund um den Marktplatz installiert hatten. Die meisten Zuhörer erkannten die Worte des geliebten Dichters. Wer war dieser hünenhafte Mann, der Puschkin zitierte?
    Keine Begleiter. Keine Bodyguards. Kein teurer Anzug. Keine Brille. Keine Zil oder Tschaika oder Mercedes. Also konnte der Mann kein Politiker sein. War das etwa ...?
    »Ach,

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