Das Monstrum
diesem Abend, dem vierundzwanzigsten Juni, eine Lesung in Fall River, anschließend zwei Abende in Boston, danach Lesungen und Vorträge in Providence und New Haven – alle Teil einer Veranstaltungsreihe, die sich New England Poetry Caravan nannte. Musste ein Unternehmen von Patricia McArdle sein, dachte Anderson und lächelte ein wenig.
»Also wird er zurück sein … wann genau? Am 4. Juli?«
»Himmel, ich weiß nicht, wann er zurück sein wird, Bobbi«, sagte Muriel. »Du kennst doch Jim. Seine letzte Lesung ist am dreißigsten Juni. Das ist alles, was ich mit Sicherheit sagen kann.«
Anderson dankte ihr und legte auf. Sie betrachtete nachdenklich das Telefon und beschwor Muriel in Gedanken herauf – auch eine irische Maid (aber Muriel hatte das rote Haar, das man erwartete), die gerade das hintere Ende ihrer besten Jahre erreichte, rundes Gesicht, grüne Augen, üppiger Busen. Hatte sie mit Jim geschlafen? Wahrscheinlich. Anderson verspürte einen Funken Eifersucht – aber keinen großen Funken. Muriel war in Ordnung. Schon nachdem sie mit Muriel gesprochen hatte, fühlte sie sich besser – mit jemandem, der wusste, wer sie war, die sie sich als reale Person vorstellen konnte, für die sie nicht nur eine Kundin auf der anderen Seite des Ladentisches eines Eisenwarenladens in Augusta war oder jemand, zu dem man am Briefkasten Hallo sagte.
Sie war von Natur aus einzelgängerisch, aber nicht einsiedlerisch, und manchmal hatte der schlichte Kontakt zu anderen Menschen die Wirkung, sie zu befriedigen, auch wenn sie gar nicht wusste, dass sie Befriedigung brauchte.
Und sie vermutete, dass sie nun wusste, warum sie mit Jim hatte Kontakt aufnehmen wollen – wenigstens das hatte das Gespräch mit Muriel bewirkt. Das Ding im Wald war ihr nicht aus dem Kopf gegangen, und die Vorstellung, dass es sich um einen verborgenen Sarg handeln könnte, war zur Gewissheit geworden. Sie war nicht rastlos, weil sie schreiben, sondern weil sie graben wollte. Sie hatte es nur nicht allein tun wollen.
»Sieht aber so aus, als müsste ich das, Pete«, sagte sie und setzte sich auf den Schaukelstuhl am Ostfenster – ihren Lesestuhl. Peter sah sie kurz an, als wollte er sagen: Was
immer du willst, Baby. Plötzlich lehnte sich Anderson vor und sah Pete an – sah ihn wirklich an. Peter erwiderte den Blick fröhlich, sein Schwanz pochte auf dem Boden. Einen Augenblick schien es, als wäre etwas an Peter anders … etwas so Offensichtliches, dass sie es sehen musste.
Aber selbst wenn es so war – sie sah es nicht.
Sie lehnte sich zurück und schlug ihr Buch auf – eine Abschlussarbeit von der Universität von Nebraska, an der der Titel das Aufregendste war: Weidekrieg und Bürgerkrieg. Sie erinnerte sich, dass ihr vor ein paar Nächten der Gedanke gekommen war, dass ihre Schwester Anne denken würde: Du wirst so komisch im Kopf wie Onkel Frank, Bobbi. Nun … vielleicht.
Wenig später war sie in die Abschlussarbeit versunken und machte sich gelegentlich Notizen auf dem Block, der neben ihr lag. Draußen regnete es noch immer.
2
Der folgende Tag dämmerte klar und hell und makellos: ein Sommertag wie auf einer Postkarte, gerade so viel Wind, dass das Ungeziefer auf Distanz blieb. Anderson machte sich bis gegen zehn Uhr im Haus zu schaffen, wobei sie sich des wachsenden Drucks bewusst wurde, den ihr Verstand auf sie ausübte, dorthin zu gehen und endlich zu graben. Sie spürte auch, wie sie sich bewusst gegen diesen Druck wehrte (wieder Orson Welles: Wir werden niemanden ausgraben, bevor … Ach, halt’s Maul, Orson). Die Zeit, in der sie einfach dem Drang des Augenblicks folgte, eine Lebensweise, die einst durch das kühne Motto »Wenn es gut ist, dann tu es« katechisiert wurde, war vorbei. Bei ihr hatte
sie nie gut funktioniert, diese Philosophie – tatsächlich hatte beinahe alles Schlechte, das ihr zugestoßen war, seinen Ursprung in einer impulsiven Handlung. Die Leute, die ihr Leben impulsiv lebten, waren für sie nicht mit einem moralischen Stigma behaftet; vielleicht war ihre eigene Intuition nur einfach nicht so gut gewesen.
Sie verzehrte ein gewaltiges Frühstück und fügte Peters Gravy-Train-Hundefutter noch ein Rührei hinzu (Peter fraß mit mehr Appetit als sonst, was Anderson auf das Ende der Regenperiode zurückführte), dann erledigte sie den Abwasch.
Wenn jetzt noch ihr Tröpfeln aufhören würde, wäre alles in Ordnung. Vergiss es; wir werden keine Periode beenden, bevor es Zeit ist. Richtig, Orson? Du
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