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Das Monstrum

Das Monstrum

Titel: Das Monstrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Frauen zwischen Januar und März Kinder geboren hatten. Wer konnte sich bei diesen Frauen ganz sicher sein? Aber die Tratscher beim Barbier wussten natürlich genau, was am neunundzwanzigsten März geschehen war, nachdem Faith Clarendon einen kräftigen acht Pfund schweren Jungen geboren hatte. Ein heftiger, feuchter Nordwind hatte um das Clarendon-Haus geheult und das letzte große Schnee-Budget des Jahres 1901 bis November aufgebraucht. Cora Simard, die Hebamme, die das Kind geholt hatte, saß im Halbschlaf am Küchenherd und wartete darauf, dass ihr Mann Irwin es durch den Schnee schaffte und sie nach Hause brachte. Sie sah, wie
Paul Clarendon sich der Wiege näherte, in der sein neugeborener Sohn lag – auf der anderen Seite des Herdes, in der Ecke, in der es am wärmsten war –, und über eine Stunde dort blieb und das Neugeborene wie gebannt betrachtete. Cora beging den schrecklichen Fehler, den starren Blick Paul Clarendons für Staunen und Liebe zu halten. Ihre Augen fielen zu. Als sie aus ihrem Nickerchen erwachte, stand Paul Clarendon mit dem Rasiermesser in der Hand über der Wiege. Er packte das Baby bei seinem dichten Schopf blauschwarzen Haares, und noch bevor Cora den Mund aufmachen konnte, um zu schreien, hatte er ihm die Kehle durchgeschnitten. Er verließ das Zimmer ohne ein Wort. Einen Augenblick später hörte sie feucht gurgelnde Laute aus dem Schlafzimmer. Als der entsetzte Irwin Simard schließlich den Mut fand, das Schlafzimmer der Clarendons zu betreten, fand er Mann und Frau Hand in Hand im Bett. Clarendon hatte seiner Frau die Kehle durchgeschnitten, sich neben sie gelegt, mit seiner linken Hand ihre rechte ergriffen, hatte sich selbst die Kehle durchgeschnitten. Das alles geschah zwei Tage, nachdem die Stadt beschlossen hatte, ihren Namen zu ändern.
    4
    Der Reverend Mr. Hartley war strikt dagegen, den Namen der Stadt in einen zu ändern, der von einem Mann vorgeschlagen worden war, und der sich als Dieb, Schürzenjäger, falschen Propheten und ganz allgemein als »falsche Schlange« herausgestellt hatte. Das hatte er von seiner Kanzel gepredigt und das zustimmende Nicken seiner Gemeinde mit einer beinahe gehässigen Freude zur Kenntnis genommen,
die so gar nicht zu ihm passen wollte. Von der Gewissheit erfüllt, dass Tagesordnungspunkt 14 abgelehnt werden würde, erschien er zur Sitzung am 27. März 1901. Nicht einmal die Kürze der Diskussion zwischen dem Verlesen des Tagesordnungspunktes durch den Stadtschreiber und dem lakonischen »Nun, wie steht’s, Leute?« von Luther Ruvall, dem Vorsitzenden des Stadtrats, beunruhigte ihn. Hätte er den leisesten Verdacht gehabt, dann hätte Hartley zum ersten Mal in seinem Leben vehement, vielleicht sogar erbittert gesprochen. Aber er hatte nicht einmal den leisesten Verdacht.
    »Wer dafür ist, sage laut und vernehmlich Ja«, sagte Luther Ruvall, und als das laute – wenn auch nicht sehr leidenschaftliche – Aye! erklang, das die Dachbalken erzittern ließ, war Hartley zumute, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Er sah sich mit wildem Blick um, aber es war zu spät. Die Lautstärke dieses Aye! hatte ihn so vollkommen überrascht, dass er keine Ahnung hatte, wie viele seiner eigenen Gemeindemitglieder sich gegen ihn gestellt und anders gestimmt hatten.
    »Wartet … «, sagte er laut mit einer Stimme, die niemand hörte.
    »Gegenstimmen?«
    Vereinzeltes und verstreutes Ney!
    Hartley versuchte, seines hinauszubrüllen, aber der einzige Laut, der ihm über die Lippen kam, war eine sinnlose Silbe – Nik!
    »Antrag angenommen«, sagte Luther Ruvall. »Nun zu Punkt 15 …«
    Dem Reverend Mr. Hartley war plötzlich warm – viel zu warm. Ihm war sogar zumute, als fiele er gleich in Ohnmacht. Er bahnte sich einen Weg durch das herumstehende Gedränge von Männern in schwarz-rot-karierten Hemden
und schmutzigen Flanellhosen hindurch, durch Wolken aus beißendem Rauch, aus Maispfeifen und von billigen Zigarren. Er glaubte immer noch in Ohnmacht zu fallen, aber jetzt war ihm, als müsste er sich vorher erst übergeben. Eine Woche später konnte er das Ausmaß seines Schocks, der fast Entsetzen gleichgekommen war, nicht mehr verstehen. Ein Jahr später gestand er nicht einmal mehr ein, dass er ein solches Gefühl verspürt hatte.
    Er stand auf der obersten Stufe der Rathaustreppe und schnappte gierig nach der vier Grad kalten Luft, umklammerte den Handlauf mit dem Griff des Todes und sah über die mit schmelzendem Schnee bedeckten Felder

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