Das Monstrum
auch immer seltener gewordenen Verpflichtung. Das heißt, sie hätte es ignorieren können, wenn das Bildnis von Jesus nicht zu ihr gesprochen hätte.
Das erste Mal geschah es an einem Donnerstagnachmittag kurz nach drei Uhr. ’Becka kam mit einem kleinen Snack (einem Stück Kuchen und einem Bierkrug voll verdünntem Kirschsirup) aus der Küche ins Wohnzimmer, um sich General Hospital anzusehen. Sie konnte nicht mehr glauben, dass Luke und Laura jemals zurückkehren würden,
aber sie war noch nicht bereit, die Hoffnung völlig aufzugeben.
Sie beugte sich herab, um den Fernseher einzuschalten, als Jesus sagte: »’Becka, Joe besorgt es dieser Nutte bei der Post in ungefähr jeder Mittagspause, und manchmal sogar nach Feierabend noch einmal. Einmal war er so geil, dass er es ihr besorgte, während er ihr helfen sollte, die Post zu sortieren. Und weißt du was? Sie hat nicht einmal gesagt: ›Warte wenigstens, bis ich die Eilbriefe sortiert habe.‹
Und das ist noch nicht alles«, sagte Jesus. Er schritt halb durch das Bild, das weiße Gewand flatterte ihm um die Knöchel, und er setzte sich auf einen Felsen, der aus dem Boden ragte. Er hielt den Stab zwischen den Knien und sah sie grimmig an. »In Haven spielt sich eine ganze Menge ab. Du wirst nicht die Hälfte davon glauben.«
’Becka schrie und sank auf die Knie. »Herr!«, kreischte sie. Ein Knie von ihr landete mitten in dem Stück Kuchen (das etwa so groß und dick war wie die Familienbibel), und Johannisbeerfüllung spritzte ins Gesicht des Katers Ossie, der unter dem Ofen hervorgekommen war, um zu sehen, was da vor sich ging. »Herr! Herr!«, kreischte ’Becka weiter. Ossie lief fauchend in die Küche, wo er unter dem Herd verschwand, während roter Schleim von seinem Schnurrbart tropfte. Dort blieb er für den Rest des Tages.
»Nun, keiner der Paulsons hat je viel getaugt«, sagte Jesus. Ein Schaf wanderte zu Ihm, und Er jagte es weg, wobei Er seinen Stab mit einer abwesenden Ungeduld handhabte, die ’Becka selbst in ihrem gegenwärtigen erstarrten Zustand an ihren verstorbenen Vater erinnerte. Das Schaf lief weg, es waberte wegen des 3D-Effekts ein wenig. Es verschwand und schien sich tatsächlich zu krümmen, als es über den Bildrand ging … aber das war bestimmt eine optische Täuschung. »Mitnichten!«, verkündete Jesus. »Joes
Uronkel war ein Mörder, wie du sehr gut weißt, ’Becka. Er hat seinen Sohn umgebracht, seine Frau und dann sich selbst. Und als er hier oben ankam, weißt du, was Wir da gesagt haben? ›Kein Platz!‹, das haben Wir gesagt.« Jesus beugte sich auf Seinen Stab gestützt nach vorn. »›Geh runter zu Mr. Pferdefuß‹, haben Wir gesagt. ›Dort bist du entschieden besser aufgehoben. Aber du wirst feststellen, dass der neue Hauswirt eine verdammt hohe Miete verlangt und niemals die Heizung abstellt‹, haben Wir gesagt.« Dann blinzelte Jesus ihr unglaublicherweise zu – und ’Becka rannte kreischend aus dem Haus.
2
Im Hinterhof blieb sie keuchend stehen, das straßenköterblonde Haar hing ihr ins Gesicht, ihr Herz schlug so schnell, dass es ihr Angst machte. Gott sei Dank hatte niemand ihr Kreischen und Herumtoben gehört; sie und Joe wohnten weit draußen an der Nista Road, ihre nächsten Nachbarn waren die Brodskys, die in diesem schäbigen Wohnwagen hausten. Die Brodskys waren eine halbe Meile entfernt. Das war gut. Jeder, der sie gehört hätte, wäre zu der Überzeugung gelangt, dass sich bei den Paulsons eine Wahnsinnige herumtrieb.
Nun, da ist doch auch eine, oder nicht? Wenn du denkst, dass dieses Bild zu sprechen angefangen hat, dann musst du verrückt sein. Daddy würde dich dafür grün und blau prügeln – einen fürs Lügen, einen dafür, dass du es selbst geglaubt hast, und einen, weil du deine Stimme erhoben hast. ’Becka, Bilder sprechen nicht.
Nein … und das hat es auch nicht getan, meldete sich
plötzlich eine andere Stimme. Diese Stimme kam aus deinem eigenen Kopf, ’Becka. Ich weiß nicht, wie das sein kann … woher du diese Dinge wissen kannst … aber so ist es gewesen. Du hast dieses Bild von Jesus deine eigenen Gedanken sprechen lassen, so wie Edgar Bergen in der Ed-Sullivan-Show Charlie McCarthy sprechen ließ.
Aber irgendwie schien diese Vorstellung noch angsteinflößender, noch verrückter als die, das Bild selbst hätte gesprochen, und sie weigerte sich, sie in ihr Denkgebäude einzulassen. Immerhin geschahen jeden Tag Wunder. Da war dieser mexikanische Bursche, der ein
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