Das Monstrum
hinaus. An verschiedenen Stellen war der Schnee bereits so weit abgeschmolzen, dass man schlammige Erde darunter sehen konnte, und er dachte mit einer bitteren Rohheit, die auch ganz und gar nicht zu ihm passte, dass die Felder wie Scheißekleckse auf einem Nachthemd aussahen. Zum ersten und einzigen Mal empfand er bitteren Neid gegenüber Bradley Colson – oder Cooder, wenn das sein wirklicher Name war. Colson war aus Ilium verschwunden … oh, Verzeihung, aus Haven. Er war weggelaufen, und jetzt wünschte sich Donald Hartley, er könnte dasselbe tun. Warum hatten sie es getan? Warum? Sie wussten, was er war, sie wussten es! Also warum hatten sie …
Eine kräftige, warme Hand legte sich auf seinen Rücken. Er drehte sich um und sah seinen guten Freund Fred Perry. Freds langes, freundliches Gesicht sah besorgt und teilnahmsvoll aus, und Hartley spürte ein unwillkürliches Lächeln über sein Gesicht huschen.
»Don, geht es dir gut?«, fragte Fred Perry.
»Ja. Drinnen war mir einen Augenblick schwindlig. Es war die Abstimmung. Damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Ich auch nicht«, erwiderte Fred.
»Meine Gemeindemitglieder waren ein Teil davon«, sagte Hartley. »Sie müssen es gewesen sein. Das Aye war so laut, dass sie dabei gewesen sein müssen, meinst du nicht?«
»Nun …«
Der Reverend Mr. Hartley lächelte ein wenig. »Ich weiß offenbar nicht so viel über die menschliche Natur, wie ich immer geglaubt habe.«
»Komm wieder rein, Don. Sie stimmen jetzt darüber ab, ob die Ridge Road gepflastert werden soll.«
»Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier draußen«, sagte Hartley, »und denke über die menschliche Natur nach.« Er verstummte, und gerade als Fred Perry sich umdrehen wollte, um wieder hineinzugehen, fragte Reverend Donald Hartley beinahe fasziniert: » V erstehst du es, Fred? Verstehst du, warum sie es getan haben? Du bist fast zehn Jahre älter als ich. Verstehst du es?«
Und Fred Perry, der sein eigenes Aye! hinter der geballten Faust gebrüllt hatte, schüttelte den Kopf und sagte Nein; er verstand es überhaupt nicht. Er mochte Reverend Mr. Hartley. Er respektierte Reverend Mr. Hartley. Aber dessen ungeachtet (oder vielleicht – nur vielleicht – deswegen) hatte es ihm ein mieses und gehässiges Vergnügen bereitet, für einen Namen zu stimmen, den Colson vorgeschlagen hatte: Colson, der falsche Prophet, Colson der Betrüger, Colson der Dieb, Colson der Verführer.
Nein, Fred Perry verstand die menschliche Natur überhaupt nicht.
Kapitel zwei
’Becka Paulson
1
Rebecca Bouchard Paulson war mit Joe Paulson verheiratet, einem der beiden Briefträger und einem Drittel der gesamten Postbelegschaft von Haven. Joe betrog seine Frau, etwas, was Bobbi Anderson längst wusste. Jetzt wusste es auch ’Becka Paulson. Sie wusste es bereits seit drei Tagen. Jesus hatte es ihr gesagt. In den vergangenen drei Tagen oder so hatte Jesus ihr die erstaunlichsten, schrecklichsten und abscheulichsten Dinge erzählt, die man sich nur vorstellen konnte. Sie machten sie krank, sie störten ihren Schlaf, sie raubten ihr den Verstand … aber waren sie nicht gleichzeitig auch wunderbar? Mannomann! Und würde sie nicht hinhören, Jesus vielleicht einfach auf Sein Gesicht legen oder Ihn anbrüllen, endlich still zu sein? Auf keinen Fall. Zum einen lag eine Art von grässlicher Faszination in allem, was Jesus sagte. Zum anderen war er der Erlöser.
Jesus stand auf dem Sony-Fernseher der Paulsons. Er war erst seit sechs Jahren dort. Davor hatte er auf zwei Zeniths gestanden. ’Becka schätzte, dass Jesus sich seit ungefähr sechzehn Jahren an derselben Stelle befand. Jesus war lebensecht und dreidimensional dargestellt. Es war ein Bild von ihm, das ’Beckas ältere Schwester Corinne, die in Portsmouth lebte, ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte. Als Joe bemerkte, dass ’Beckas Schwester ganz schön knauserig war, hatte ’Becka ihm befohlen, still zu sein. Nicht dass
sie sonderlich überrascht gewesen wäre; von einem Mann wie Joe konnte man kein Verständnis dafür erwarten, dass man wahre Schönheit nicht mit einem Preisschild versehen konnte.
Auf dem Bild war Jesus in ein schlichtes weißes Gewand gekleidet und hielt einen Hirtenstab in der Hand. Der Christus auf ’Beckas Fernseher trug Sein Haar fast so wie Elvis, nachdem Elvis aus der Armee entlassen worden war. Ja; Er sah ein wenig wie Elvis in G.I. Blues aus. Seine Augen waren braun und sanft. Hinter Ihm, in perfekter Perspektive, wanderten
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