Das Monstrum
stöhnend und mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit.
Ihre Kopfschmerzen waren weg, wenigstens vorübergehend. Sie erwachte aus dem Traum, war sofort hellwach und dachte: Ruth, du musst die Stadt sofort verlassen. Du hast nicht einmal Zeit, einen Koffer zu packen – zieh dir nur etwas an, steig in den Dart und VERSCHWINDE!
Aber das konnte sie nicht.
Stattdessen legte sie sich wieder hin. Nach langer Zeit schlief sie wieder ein.
6
Als die Meldung kam, dass das Haus der Paulsons in Flammen stand, rückte die Freiwillige Feuerwehr von Haven aus, aber sie ließ sich erstaunlich viel Zeit. Ruth war zehn Minuten dort, als das erste Löschfahrzeug dort eintraf. Sie hätte Dick Allison den Kopf abgerissen, als er endlich auftauchte, aber sie wusste, dass beide Paulsons tot waren – und das hatte Dick Allison natürlich auch gewusst. Darum hatte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu beeilen, aber deshalb fühlte Ruth sich kein bisschen besser.
Ganz im Gegenteil.
Dieses Wissen. Was genau war das?
Ruth wusste nicht, was es war.
Selbst die Tatsache, dass es dieses Wissen gab, war schwer zu begreifen. Am Tag, an dem das Haus der Paulsons niederbrannte, wurde Ruth klar, dass sie schon seit einer Woche Dinge wusste, die sie eigentlich gar nicht wissen durfte. Aber es schien so natürlich zu sein! Es kam nicht mit Pauken und Trompeten. Das Wissen war ebenso Teil von ihr – inzwischen von jedermann in Haven – wie ihr Herzschlag. Daher dachte sie ebenso wenig darüber nach wie über ihren Herzschlag, der leise und stetig in ihren Ohren tönte.
Aber sie musste darüber nachdenken, nicht? Weil es Haven veränderte – und die Veränderungen nicht gut waren.
7
Einige Tage, bevor David Brown verschwand, wurde Ruth mit dumpfer, dämmernder Bestürzung bewusst, dass sie von der Stadt geächtet wurde. Niemand spuckte sie an,
wenn sie morgens von ihrem Haus zu ihrem Büro im Rathaus ging … niemand warf mit Steinen … sie spürte immer noch viel von der alten Freundlichkeit in ihren Gedanken … aber sie wusste, dass die Leute sie beobachteten, wenn sie vorüberging. Sie ging mit erhobenem Kopf und gelassenem Gesicht, als würde ihr Kopf nicht pochen und pulsieren wie ein fauler Zahn, als hätte sie nicht die Nacht zuvor (und die vor dieser und die davor und … ) damit verbracht, sich im Bett hin und her zu werfen, einzudösen und schreckliche Träume zu haben, an die sie sich nur halb erinnerte, und diese dann mühsam wieder abzuschütteln.
Sie beobachteten sie … beobachteten sie und warteten darauf …
Worauf?
Aber sie wusste es: Sie warteten darauf, dass sie »werden« würde.
8
In der Woche zwischen dem Brand bei Paulsons und Hillys ZWEITER GALA-ZAUBERVORSTELLUNG begannen die Dinge für Ruth schiefzulaufen.
Die Post. Das war eine Sache.
Sie bekam weiterhin Rechnungen und Rundschreiben und Kataloge, aber keine Briefe. Keine persönliche Post. Nach drei Tagen machte sie einen Spaziergang zum Postamt. Nancy Voss stand lediglich wie ein Sack hinter dem Schalter und sah sie ausdruckslos an. Als Ruth ausgeredet hatte, glaubte sie, buchstäblich das Gewicht des Blickes der Voss spüren zu können. Es war, als lägen zwei staubige Steine auf ihrem Gesicht.
In der eintretenden Stille konnte sie hören, wie im Büro etwas summte und Laute von sich gab, die an eine kratzende Spinne erinnerten. Sie hatte keine Ahnung, was
(davon abgesehen, dass es ihre Post sortierte)
es sein könnte, aber die Geräusche gefielen ihr nicht. Und es gefiel ihr nicht, mit dieser Frau hier zu sein, denn sie hatte mit Joe Paulson geschlafen und ’Becka gehasst und …
Draußen war es heiß. Hier drinnen war es noch heißer. Ruth spürte, wie ihr am ganzen Körper der Schweiß ausbrach.
»Sie müssen einen Suchantrag ausfüllen«, sagte Nancy Voss mit langsamer, tonloser Stimme. Sie schob eine weiße Karte über den Tresen. »Hier.« Sie zog die Lippen zu einem humorlosen Grinsen zurück. Ruth sah, dass die Frau die Hälfte ihrer Zähne verloren hatte.
Hinter ihnen, in der Stille: Kratz-kratz, kritz-kratz, kratz-kratz, kritz-kratz.
Ruth begann, das Formular auszufüllen. Der Schweiß bildete dunkle Ringe unter den Achseln ihres Kleides. Draußen brannte die Sonne unablässig auf den Parkplatz der Post herunter. Achtunddreißig im Schatten, mindestens, und kein Windhauch, und Ruth wusste, der Asphalt des Parkplatzes würde so weich sein, dass man ein Stück davon mit dem Finger wegreißen konnte, wenn man wollte, um darauf
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