Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Monstrum

Das Monstrum

Titel: Das Monstrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
ohnehin beseitigen müssen, bevor man es reparieren konnte. Und das würde noch früh genug sein. Was die Stadträte anbelangte, so war alles in Ordnung, solange jemand anders im Amt war, wenn die Turmuhr nachts um drei zwölf schlug und dann einfach stehen blieb.
    Ruth wickelte sich die Schnur des Seesacks dreimal ums Handgelenk und begann, mit dem Sack zwischen den Beinen langsam die Leiter emporzuklettern. Der Sack stieß immer wieder an und ruckte aufwärts wie ein Körper im Leichensack. Die Schnur schnitt immer tiefer in ihr Handgelenk, und bald war die Hand purpurn und gefühllos. Sie atmete in langen, reißenden Zügen, die tief in ihrer Brust schmerzten.
    Schließlich hüllten sie die Schatten ein. Sie trat von der Leiter auf den eigentlichen Dachboden des Rathauses und zog ihren Sack Hand über Hand hoch. Ruth registrierte kaum, dass ihr Zahnfleisch und ihre Ohren zu bluten angefangen hatten und dass sie den sauren, kupfrigen Geschmack von Blut im Mund hatte.
    Um sich herum nahm sie den Gruftgestank von alten Ziegelsteinen wahr, die in der trockenen, dunklen, aufgestauten Sommerhitze backten. Links von ihr befand sich ein großer, undeutlicher Kreis: die Rückseite des Zifferblattes über der Main Street. In einer wohlhabenderen Stadt hätten zweifellos alle vier Seiten ein Zifferblatt gehabt; der Turm von Haven hatte nur dieses eine. Es hatte einen Durchmesser von zwölf Fuß. Dahinter konnte sie, noch undeutlicher, die sich bewegenden Zahnräder sehen. Sie konnte sehen, wo der Hammer herabsausen und die Glocke anschlagen
würde. Die Delle dort war tief und uralt. Das Uhrwerk war sehr laut.
    Mit raschen, eckigen Bewegungen – sie war jetzt selbst wie eine Uhr, eine ablaufende Uhr, und in ihrem Glockenturm wimmelte es eindeutig von Fledermäusen, nicht? – wickelte Ruth sich die Baumwollschnur vom Handgelenk – musste sie buchstäblich aus einer tiefen, spiraligen Rinne in ihrem Fleisch herauswinden – und öffnete das Maul des Seesacks. Sie holte die Puppen eine nach der anderen heraus, wobei sie sich bewegte, so schnell sie konnte. Sie legte sie so im Kreis aus, dass all ihre Füße miteinander Kontakt hatten, ihre Hände ebenfalls. In der Dunkelheit sah es aus, als hielten die Puppen eine Séance ab.
    Sie verband den M-16-Kracher mit dem Zentrum der Delle in der großen Glocke. Wenn die Stunde schlug und der Hammer herabsauste …
    Bumm.
    Ich werde einfach hier sitzen, dachte sie. Hier sitzen und darauf warten, dass der Hammer herabsaust.
    Plötzlich spülte dumpfe Müdigkeit über sie hinweg. Ruth trieb davon.
    16
    Sie kam langsam wieder zu sich. Zuerst dachte sie, sie müsste zu Hause in ihrem Bett sein, das Gesicht ins Kissen gepresst. Sie war im Bett, und das alles war nur ein schrecklicher Albtraum gewesen. Aber ihr Kissen war nicht so rau und so heiß; ihre Laken pulsierten und atmeten nicht.
    Sie hob die Hände und berührte einen heißen, ledrigen Körper, kaum mit Fleisch bedeckte Knochen. Die Fledermaus
hatte sich direkt oberhalb ihrer rechten Brust niedergelassen, in der Kuhle ihrer Schulter … plötzlich wurde ihr klar, dass sie das Tier gerufen hatte … dass sie sie irgendwie alle gerufen hatte. Sie konnte seinen schlüpfrigen Nagetierverstand hören, dessen Gedanken dunkel und instinktiv und verrückt waren. Es dachte nur an Blut und Insekten und an das Gleiten in blinder Dunkelheit.
    »Mein Gott, nein!«, schrie sie … Das runzlige, fremde Gekritzel seiner Gedanken war irrsinnig und unerträglich. »O nein, o bitte, lieber Gott, nein …«
    Unwillkürlich presste sie die Hände zusammen, und die papierartigen Knochen in seinen Flügeln brachen unter ihren Fingern. Es fiepte, und Ruth verspürte scharfe Nadeln des Schmerzes in den Wangen, als sie gebissen wurde.
    Jetzt fiepten sie alle, alle, und ihr wurde bewusst, dass sich Dutzende auf ihr niedergelassen hatten, vielleicht Hunderte. Auf ihrer anderen Schulter, auf ihren Schuhen, in ihrem Haar. Unter ihrem Blick fing der Schoß ihres Kleides an, sich zu bewegen und zu wuseln.
    »O nein! «, schrie sie noch einmal in die staubige Düsternis des Turms. Fledermäuse flogen um sie herum. Sie fiepten. Das Flüstern ihrer Schwingen war leise anschwellender Donner, es glich dem anschwellenden Flüstern der Stimmen Havens. »O nein! O nein! O nein! «
    Eine Fledermaus flatterte in ihr Haar, verfing sich, fiepte.
    Eine andere flog ihr ins Gesicht, und ihr Atem war der Gestank eines toten Hühnerhauses.
    Die Welt wirbelte und drehte sich.

Weitere Kostenlose Bücher