Das Monstrum
…
Als sie am nächsten Tag immer noch nicht angerufen hatte, verschob Anne die Beerdigung ungeachtet des schwachen Wehklagens ihrer Mutter, dass das nicht schicklich sei. Schließlich wirbelte Anne zu ihr herum und fauchte: »Ich bestimme, was schicklich ist und was nicht. Es ist schicklich, dass diese kleine Hure hier sein sollte, und sie hat sich nicht einmal die Mühe gemacht und zurückgerufen. Und jetzt lass mich in Ruhe!«
Ihre Mutter sank in sich zusammen.
An diesem Abend versuchte sie es erst unter Bobbis Nummer, dann unter der des Stadtverordneten. Bei der ersten ertönte wieder das Sirenengeräusch. Bei der zweiten meldete sich ein Anrufbeantworter. Sie wartete geduldig bis zu dem Pfeifton, dann sagte sie: »Hier ist wieder Bobbis Schwester, Mr. Berringer, die zutiefst hofft, dass Sie von der Syphilis heimgesucht werden, die erst erkannt wird, wenn Ihnen die Nase abfällt und Ihre Eier schwarz werden.«
Sie rief wieder die Auskunft an und verlangte drei Nummern in Haven – die Nummer von Newt Berringer, einen Smith (» Irgendeinen Smith, Schätzchen, in Haven sind die alle miteinander verwandt«) und einen Brown (die Nummer, die sie daraufhin bekam, war aufgrund der alphabetischen Ordnung die von Bryant). Bei jeder Nummer bekam sie dasselbe Sirenengeheul.
»Scheiße!«, schrie Anne und warf das Telefon an die Wand.
Oben zuckte ihre Mutter zusammen und hoffte, dass Bobbi nicht heimkommen würde … Zumindest nicht, bevor sich Annes Stimmung gebessert hatte.
11
Sie verschob Beisetzung und Begräbnisfeier nochmals um einen Tag.
Die Verwandten fingen an zu murren, aber ihnen war Anne mehr als ebenbürtig, herzlichen Dank. Der Bestattungsunternehmer sah sie nur einmal an und entschied dann, dass der alte Ire in seinem Kiefernsarg verfaulen konnte, bevor er sich einmischen würde. Anne, die den ganzen
Tag am Telefon verbrachte, hätte ihm zu diesem weisen Entschluss gratuliert. Ihre Wut überstieg rasch alle bislang bekannten Höhen. Inzwischen schienen alle Telefone in Haven außer Betrieb zu sein.
Sie konnte die Beerdigung nicht noch einen Tag verschieben, das wusste sie. Diese Schlacht hatte Bobbi gewonnen; nun gut, so sei es. Aber nicht den Krieg. O nein. Wenn sie das glaubte, dann standen der Schlampe noch ein paar Überraschungen ins Haus – und alle würden ziemlich schmerzhaft sein.
Anne kaufte die Tickets wütend, aber zuversichtlich – eine vom Staat New York nach Bangor … und zwei Rückfahrkarten.
12
Sie wäre schon am nächsten Tag nach Bangor geflogen – für diesen Tag war das Ticket ausgestellt –, aber ihre idiotische Mutter fiel die Hintertreppe hinunter und brach sich die Hüfte. Sean O’Casey hatte einmal gesagt, wenn man unter Iren lebte, dann marschierte man in einem Narrenzug, und wie recht er damit hatte! Die Schreie ihrer Mutter riefen Anne aus dem Garten zurück, wo sie auf einer Liege gelegen, etwas Sonne getankt und ihre Strategie durchdacht hatte, wie sie Bobbi in Utica halten konnte, wenn sie sie erst einmal hier hatte. Ihre Mutter lag am Fuß der schmalen Treppe in einem widerlichen Winkel verkrümmt, und Annes erster Gedanke war, dass sie für dieses Haxendurcheinander die dumme alte Kuh am liebsten dort liegen gelassen hätte, bis die narkotisierende Wirkung des Rotweins nachließ. Die frischgebackene Witwe roch wie ein Weinkeller.
In diesem Augenblick der Wut und Bestürzung wurde Anne klar, dass sie all ihre Pläne ändern musste, und sie dachte, dass ihre Mutter es vielleicht absichtlich getan haben könnte – dass sie sich Mut angetrunken hatte und dann die Treppe nicht hinuntergefallen, sondern regelrecht gesprungen war. Warum? Natürlich, um sie von Bobbi fernzuhalten.
Aber das wirst du nicht, dachte sie und ging zum Telefon. Das wirst du nicht; wenn ich will, dass etwas geschieht, dann wird das auch geschehen; ich werde nach Haven gehen, und ich werde dort eine breite Schneise schlagen. Ich werde Bobbi zurückbringen, und sie werden noch lange an mich denken. Ganz besonders dieser Schwanz von einem Dorftrottel, der einfach aufgelegt hat.
Sie nahm den Hörer ab und wählte mit raschen, zornigen Bewegungen ihres Zeigefingers die Nummer der Ambulanz, die seit dem ersten Schlaganfall ihres Vaters am Telefon klebte. Sie knirschte mit den Zähnen.
13
Dementsprechend war es der neunte August, bevor sie endlich wegkonnte. In der Zäsur, der Zwischenzeit war kein Anruf von Bobbi gekommen, und Anne hatte nicht mehr versucht, sie zu erreichen, oder den
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