Das Monstrum
Gründen waren die Jalousien heruntergelassen. Ab und zu regte sich ein leiser Lufthauch und saugte die Jalousien ein wenig in die Fensteröffnungen hinein. Wenn das geschah, sahen sie wie die Segel eines Schiffs bei Flaute aus, die ihr Bestes gaben und dennoch scheiterten. Anne schnüffelte und rümpfte die Nase. Buäh. Es roch wie in einem Affenhaus. Von dem großen Dichter hätte sie nichts anderes erwartet, aber ihre Schwester war besser erzogen worden. Dieses Haus war ein Schweinestall.
»Hallo, Schwesterchen.«
Sie drehte sich um. Einen Augenblick war Bobbi nur ein Schatten, und Anne spürte, wie ihr Herz bis zum Hals
schlug, denn mit dem Schatten war irgendetwas seltsam, er war überhaupt nicht richtig …
Dann sah sie den weißen Fleck des Bademantels ihrer Schwester, hörte Wasser tröpfeln und dachte daran, dass Bobbi gerade unter der Dusche hervorgekommen war. Sie war fast komplett nackt. Gut. Aber ihre Freude war nicht so groß, wie sie hätte sein sollen. Ihr Unbehagen blieb, das Gefühl, dass an dem Schatten unter der Tür etwas nicht richtig war.
Dies ist kein Ort, an dem du dich momentan aufhalten willst.
»Daddy ist tot«, sagte sie und strengte ihre Augen an, um besser sehen zu können. Trotz ihrer Anstrengung blieb Bobbi nur ein vager Schemen unter der Tür, die Wohnzimmer und – vermutete sie – Bad miteinander verband.
»Ich weiß. Newt Berringer hat es am Telefon gesagt.«
Etwas an ihrer Stimme. Etwas in der vagen Andeutung ihres Schattens, das auf eine weitergehende Veränderung hindeutete. Dann wurde es ihr klar. Die Erkenntnis brachte einen garstigen Schock und noch größere Angst mit sich. Bobbi hörte sich nicht ängstlich an. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Bobbi sich nicht an, als ob sie Angst vor ihr hätte.
»Wir haben ihn ohne dich begraben. Deine Mutter ist ein klein wenig gestorben, weil du nicht nach Hause gekommen bist, Bobbi.«
Sie wartete darauf, dass Bobbi sich verteidigen würde. Nur Schweigen.
Um Himmels willen, komm hierher, wo ich dich sehen kann, du kleiner Feigling!
Anne … Bobbi ist nicht mehr dieselbe.
»Sie ist vor vier Tagen die Treppe heruntergefallen und hat sich die Hüfte gebrochen.«
»Tatsächlich?«, fragte Bobbi gleichgültig.
»Du kommst mit mir nach Hause, Bobbi.« Sie hatte Nachdruck in ihre Worte legen wollen, registrierte aber fassungslos, wie schrill und schwach ihre Stimme klang.
»Wegen deiner Zähne bist du hereingekommen«, sagte Bobbi. »Natürlich! Daran hätte ich denken sollen!«
»Bobbi, komm hierher, wo ich dich sehen kann!«
»Möchtest du das wirklich?« Ihre Stimme hatte einen seltsam spöttischen Ton angenommen. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Hör auf, diese Scheiße mit mir abzuziehen, Bobbi!« Ihre Stimme schwoll an.
»Hört, hört!«, sagte Bobbi. »Ich hätte nie gedacht, ausgerechnet von dir jemals so etwas zu hören, Anne. Nachdem du jahrelang deine Scheiße mit mir abgezogen hast … mit uns allen. Aber gut. Wenn du darauf bestehst, meinetwegen. Meinetwegen.«
Sie wollte sie nicht sehen. Plötzlich wollte Anne nur noch weglaufen, möglichst weit weg von diesem schattigen Ort und dieser Stadt, wo sie einen den ganzen Tag bewusstlos am Straßenrand liegen ließen. Aber es war zu spät. Sie sah die verschwommene Handbewegung ihrer jüngeren Schwester, sah den Bademantel in dem Augenblick fallen, in dem das Licht ausging.
Das Wasser hatte die Schminke abgespült. Bobbis Kopf und Hals waren durchsichtig und wie Gelee. Ihre Brüste waren tonnenförmig angeschwollen und schienen zu einem einzigen warzenlosen Fleischwulst zusammenzuwachsen. Anne konnte undeutlich Gedärm in Bobbis Bauch sehen, das gar nicht wie menschliches Gedärm aussah – Flüssigkeit zirkulierte darin, aber sie war grün.
Hinter Bobbis Stirn konnte sie den pulsierenden Gedankensack sehen.
Bobbi grinste zahnlos.
»Willkommen in Haven, Anne«, sagte sie.
Anne spürte, wie sie einen Schritt zurück und in einen gummiweichen Traum tat. Sie wollte schreien, hatte aber keine Luft.
Zwischen Bobbis Beinen schlängelte sich ein groteskes Bündel Tentakel wie Seegras aus der Scheide – der Stelle jedenfalls, wo die Scheide gewesen war. Anne hatte keine Ahnung, ob sie noch da war oder nicht, und es war ihr auch egal. Das eingesunkene Tal, das zwischen ihren Beinen lag, genügte vollauf. Das … und die Art, auf die die Tentakel auf sie zeigten … nach ihr zu greifen schienen.
Bobbi ging nackt auf sie zu. Anne versuchte zurückzuweichen
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