Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Monstrum

Das Monstrum

Titel: Das Monstrum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
das sie alle wie ein mit grenzenloser Macht ausgestatteter Dämon beherrschte.
    Einmal in diesem Jahr war sie im Unterricht eingeschlafen, im Grundlagenseminar Textgestaltung. Er war sanft zu ihr gewesen, denn er liebte sie bereits ein wenig, und er hatte die dunklen Ringe unter ihren Augen gesehen.
    »Ich kann nachts nicht gut schlafen«, sagte sie, als er sie nach der Vorlesung noch einen Augenblick bei sich behielt. Sie war immer noch im Halbschlaf gewesen, sonst wäre sie niemals darüber hinausgegangen; so übermächtig war Annes Einfluss – der Einfluss von Leighton Street – auf sie gewesen. Aber sie hatte einem Menschen unter Drogeneinfluss geglichen, der beiderseits der dunklen, steinigen Mauer des Schlafes ein Bein herabhängen ließ. »Ich schlafe fast ein, und dann höre ich sie.«
    »Wen?«, fragte er sanft.

    »Schwesterchen … meine Schwester Anne. Sie knirscht mit den Zähnen, und es hört sich an wie K-K-K …«
    Knochen, hatte sie sagen wollen, aber dann war sie zu einem hysterischen Weinkrampf aufgewacht, der ihn zutiefst geängstigt hatte.
    Anne.
    Anne war Leighton Street, mehr als alles andere.
    Anne war
    (klopften an mein Tor)
    der Knebel für Bobbis Bedürfnisse und Ambitionen.
    Okay, dachte Gard. Für dich, Bobbi. Nur für dich. Und dann begann er »Leighton Street« so flüssig zu lesen, als hätte er es den ganzen Nachmittag in seinem Zimmer geprobt.
    »Diese Straßen fangen an, wo Pflastersteine
aus dem Asphalt ragen wie die Köpfe
von Kindern, nur unzulänglich inmitten bestattet«,
    las Gardener.
    »Was ist das für ein Mythos?
fragen wir, aber
die Kinder, die hier Schlagball oder
Bockspringen spielen, die lachen nur.
    Kein Mythos, sagen sie uns, kein Mythos,
nur, sagen sie, he, Wichser
nichts anderes als Leighton Street,
nichts anderes als kleine Häuser
nur Verandas, auf denen unsere Mütter
Wäschewaschen, dort, und sich.

    Wo die Tage heiß sind
und in Leighton Street hören sie Radio
während Saurier zwischen TV-Schüsseln fliegen,
die auf den Dächern stehen, sie sagen, he, Wichser,
sagen: He, Wichser!
    Kein Mythos, sagen sie uns, kein Mythos,
nur, sagen sie, he, Wichser,
nichts hier außer Leighton Street
    So, sagen sie, schweigst du in der Stille deiner Tage,
Wichser.
    Als wir die Hinterland-Straßen dort hinter uns ließen,
Lagerhäusern mit leeren Backsteingesichtern,
Sagtest du: ›Oh, aber ich bin am Ende
meines Wissens, und trotzdem höre ich ihr Knirschen,
ihr Knirschen in der Nacht …‹«
    Weil es so lange her war, seit er das Gedicht zuletzt gelesen hatte – und zwar für sich allein –, war es nicht nur ein »deklamieren« (etwas, was man, wie er herausgefunden hatte, am Ende einer Tournee wie dieser fast nicht vermeiden konnte); er entdeckte es neu. Die meisten, die an diesem Abend zu der Lesung in der Northeastern gekommen waren – selbst die, welche Zeuge des schäbigen, würdelosen Ausklangs des Abends wurden –, waren sich darin einig, dass Gardeners Lesung von »Leighton Street« die beste dieses Abends war. Viele waren sogar der Überzeugung, dass es das Beste war, das sie je gehört hatten. Und da es die letzte Lesung war, die Gardener in seinem Leben halten sollte, war es vielleicht gar kein so schlechter Abschied.
    6
    Er brauchte fast zwanzig Minuten, um das ganze Gedicht zu lesen, und als er fertig war, schaute er unsicher auf und in eine tiefe und makellose Quelle des Schweigens hinein. Ihm blieb gerade genügend Zeit für den Gedanken, dass er das verdammte Ding überhaupt nicht gelesen hatte, dass es lediglich eine lebhafte Halluzination in den ein oder zwei Augenblicken gewesen war, bevor er ohnmächtig wurde.
    Dann stand jemand auf und begann, laut und anhaltend zu klatschen. Es war ein junger Mann mit Tränen auf den Wangen. Das Mädchen neben ihm stand ebenfalls auf und klatschte, und auch sie weinte. Dann standen sie alle auf und applaudierten, ja, sie brachten ihm eine verschissene Standing Ovation dar, und in ihren Gesichtern sah er, was jeder Dichter oder Möchtegern-Dichter zu sehen hofft, wenn er mit einer Lesung fertig ist: die Gesichter von Leuten, die plötzlich aus einem Traum erwacht sind, der strahlender war als jede Wirklichkeit. Sie sahen so benommen aus, wie Bobbi damals ausgesehen hatte – so, als wären sie sich nicht ganz sicher, wo sie sich befanden.
    Aber er sah, dass nicht alle standen und applaudierten. Patricia McCardle saß steif und starr auf ihrem Sitz in der dritten Reihe und hatte die Hände fest über der

Weitere Kostenlose Bücher