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Das Moor Des Vergessens

Das Moor Des Vergessens

Titel: Das Moor Des Vergessens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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struppigen Gras des hohen Moorbodens, auf dem sie grasten. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, und sie ließ jeden Gedanken an die Stadt hinter sich. Sie gehörte hierher. Sie drehte das Rad und fuhr ins Dorf hinunter, eine Fahrt, die sie schon unzählige Male gemacht hatte. Wie immer war sie ergriffen von dem weiten Blick, der sich ihr plötzlich bot, davon, wie das Licht auf dem Thirlmere glitzerte und die Spitzen und Klippen dahinter sich eng nebeneinander über dem Horizont erhoben. Wie war es wohl für Fletcher Christian gewesen, fragte sie sich, als er nach seiner Zeit in der Südsee in die Heimat zurückkehrte? Ob sein Geist sich wohl vor Freude und Erleichterung emporschwang, wieder von den heimatlichen Bergen umgeben zu sein, deren gedämpfte Farben er aus seiner Jugend kannte? Oder sehnte er sich nach den üppigen Tropen mit ihren atemberaubenden Farben? Verlangten seine Knochen in dieser Kälte und Feuchtigkeit nach der wärmeren südlichen Sonne? Erschienen ihm die Frauen blass und farblos nach der exotischen Schönheit, die ihm einen Sohn geschenkt hatte? Hatte er das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein, oder war ihm dies hier nur eine andere Art von Gefängnis als das auf Pitcairn? Wie immer seine Geschichte verlaufen war, sie musste unweigerlich William Wordsworths Phantasie angeregt haben. Vor ihrem geistigen Auge beschwor sie ein Bild des in seinem Garten von Dove Cottage sitzenden Dichters herauf, den Kopf über die widerspenstigen Zeilen des Präludiums gebeugt, dieser langen Schilderung seines frühen Lebens, die zu schreiben und zu ändern nahezu fünfzig Jahre in Anspruch nahm. So vieles ließ er dabei aus, und vieles beschönigte er. Obwohl er den Anschein freimütigen Bekennens erweckte, hatten die Biographen nachgewiesen, dass das Gedicht in Wirklichkeit ein Gedankengebäude war, das aus dem Leben des jungen Wordsworth alles Skandalöse oder politisch Fragwürdige ausklammerte. Das schmälerte den Wert seiner dichterischen Schönheit keineswegs, aber es ergaben sich daraus ernsthafte Zweifel an seinem biographischen Wert. Und paradoxerweise glaubte Jane gerade deshalb umso mehr an die Berechtigung ihrer Theorie. Da es so viel anderes gab, das ausgelassen worden war, brauchte die Tatsache, dass es keine direkten Beweise im veröffentlichten Werk Wordsworths gab, nicht zu bedeuten, dass die Begebenheiten, die sie sich ausmalte, sich nicht auch tatsächlich ereignet hatten.
    Jane fuhr weiter den Langmere Fell hinunter, wo zu ihrer Linken munter plätschernd und randvoll der Lang Burn auf den Thirlmere zustürzte. Als sie vor der Kreuzung an der Landstraße bei Town Head abbremste, fragte sie sich, ob William den Rückkehrer sofort erkannt hatte, als sie wieder aufeinander trafen. Blighs Beschreibung des Dreiundzwanzigjährigen zu Beginn der Reise hatte sich ihr eingeprägt. Er war ein Meter sechsundsiebzig groß, also für damalige Zeiten überdurchschnittlich hochgewachsen. Er hatte einen auffällig dunklen Teint, der im Lauf der Jahre in Wind und Sonne der Südsee noch dunkler geworden war. Laut Bligh war er von »kräftiger Statur«, aber leicht O-beinig. Sie stellte sich ihn wie eine Figur von Caravaggio vor, ein Helldunkel aus Licht und Schatten am Kapitänstisch, seine dunklen Augen im Kerzenlicht blitzend. Er war eindrucksvoll und außergewöhnlich. Sie glaubte nicht, dass der aufmerksame Dichter lange brauchte, um den vermeintlich fremden Mann mit dem lebhaften Jungen in Verbindung zu bringen, den er aus seiner Jugendzeit kannte. Die Situation musste ihn zutiefst beunruhigt haben. Gerade als er sein eigenes, leicht unrühmliches Vorleben beschönigt und sich selbst als Dichter mit moralischer Autorität neu erfunden hatte, stand da plötzlich eine der berüchtigtsten Gestalten seiner noch nicht lange zurückliegenden Vergangenheit vor ihm und erhob Anspruch auf seine Freundespflicht. Es war hochdramatisch. Wenigstens blieb es William wohl erspart, dass ein Zeuge seine Verlegenheit mitbekam. Ihre Zusammenkunft fand wahrscheinlich unter vier Augen statt, da Fletcher sich wohl keine öffentliche Begegnung leisten konnte.
    Jane fuhr an der Abzweigung nach Grasmere vorbei und weiter durch die Kurve, die die Straße vollführte. Jetzt sah sie die Schilder, die auf Dove Cottage und das Wordsworth Museum hinwiesen. Wenigstens würden heute nicht allzu viele Besucher da sein, dachte sie. Nicht wie im Hochsommer, wenn die Touristen sich in den winzigen Räumen drängten, wo die

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