Das Moor Des Vergessens
Rachenschleimhaut, ließ Raucherhusten schlimmer werden, und im Licht der Straßenlaternen hatten alle Köpfe einen Heiligenschein. Die Helligkeit in den Fenstern sah im Nebel romantisch aus, aber davon ließ sich niemand täuschen. Die Gehsteige waren leer. An einem solchen Abend konnte man die Menschen nicht von ihren Fernsehern zu Hause weglocken.
Tenille streckte sich und sah auf dem Bildschirm, wie spät es war. Kurz nach zehn, Zeit, zu gehen. Einesteils wäre sie gern hier geblieben, im Schutz von Janes Wohnung und allein an einem Ort, wo sie so tun konnte, als sei ihr Leben anders als die harte Wirklichkeit. Aber andererseits wollte sie das Übereinkommen von Jane und ihrem Vater auf die Probe stellen. Sie sammelte ihre Sachen zusammen und stapfte zur Tür. Nach einem letzten Blick zurück und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie den Schlüssel noch in der Tasche hatte, trat sie aus der warmen Wohnung in die Nacht hinaus. Die feuchte kalte Luft ließ sie frösteln, als sie über die Galerie zu den Treppen eilte. Sie hatte gerade angefangen, die zwei Treppen zu ihrem Stockwerk hinaufzugehen, als sie einen leisen Knall hörte. Der Nebel dämpfte das Geräusch und machte es unmöglich, die Richtung, aus der der Knall kam oder was ihn verursacht hatte, zu erraten. Aber unerklärliche Geräusche waren nicht gerade ungewöhnlich in der Marshpool-Farm-Siedlung, und sie nahm ihn kaum zur Kenntnis.
Als Tenille auf die letzte Treppenbiegung zuging, wurde ihr klar, dass jemand die Treppe herunter auf sie zukam. Der Klang der Schritte verriet jemanden, der groß und selbstbewusst war. Instinktiv duckte sie sich zur Seite und machte Platz für denjenigen, der vorbeiwollte. In dieser Umgebung konnte ein solcher Rückzug manchmal den Unterschied ausmachen, ob man unversehrt nach Hause kam oder nicht. Sie umrundete die letzte Treppenbiegung und stand John Hampton direkt gegenüber. Eine wirre Mischung von Gefühlen erfasste sie: eine böse Vorahnung, Angst und Neugier. Falls er überrascht war, sie zu sehen, so zeigte er es nicht. Er blieb nicht einmal stehen, sondern warf ihr mit ausdruckslosem Gesicht nur einen kurzen Blick zu. Als er an ihr vorbeikam, sagte er leise: »Jetzt ist keine gute Zeit, nach Hause zu gehen, Tenille.«
Sie blieb stehen und starrte ihm nach. Ein zartes Glücksgefühl begann in ihr zu keimen. Er hatte es getan. Er hatte es für sie getan. Tenille grinste und rannte die wenigen noch verbleibenden Stufen hinauf. Zum ersten Mal war sie begierig, Geno zu sehen. Sie glaubte, er würde sich in nächster Zeit ihr gegenüber zurückhalten.
Die Wohnungstür war angelehnt. Sie stieß sie auf und ging in die Wohnung. Ein merkwürdiger Geruch wie von Feuerwerkskörpern hing in der Luft. Im Flur war es dunkel, nur ein dünner Lichtschein deutete die Umrisse der Wohnzimmertür an. Tenille stieß sie auf, und ein erwartungsvoll gespanntes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Der Anblick, der sich ihr bot, war ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte. Sie hatte geglaubt, Geno qualvoll zusammengerollt auf dem Sofa vor sich zu sehen, doch es war nur noch seine Hose zu erkennen.
Die obere Hälfte seines Körpers war unkenntlich und bestand nur aus zerfetztem Gewebe und zerrissenem Stoff.
Hautstücke hingen wie eine makabre Dekoration von seinem Kopf und Hals herunter. Blut, Haare und Fleisch klebten überall auf dem Sofa und der Wand dahinter. Im Zimmer selbst roch es anders. Der Gestank von Exkrementen, Schießpulver und etwas Metallischem blieb ihr in der Kehle stecken. Sie spürte, dass ihr übel wurde, aber die schauerlichen Überreste auf dem Sofa übten zugleich eine schreckliche Faszination auf sie aus. Es war, als sei ihr Bewusstsein zweigeteilt. Einerseits war sie sehr froh, dass sie in Sicherheit war. Die andere Hälfte ihres Bewusstseins fragte sich, warum sie nicht laut schrie.
Tenille trat einen Schritt näher und stolperte beinahe über etwas, das auf dem abgetretenen Teppich lag. Benommen und schockiert bückte sie sich und hob es auf. Das Holz der abgesägten Schrotflinte in ihrer Hand fühlte sich warm an. Mit der anderen Hand fuhr sie zerstreut über das glatte Metall des Laufs. Das hier war ihr Freund und Retter gewesen. Dieses Werkzeug hatte ihr Vater gewählt. Der Gedanke an John Hampton wurde übermächtig. Die schreckliche Szene vor ihr traf sie wie der laute Knall einer zugeworfenen Tür. Entsetzt und zitternd warf sie die Waffe weg. Ihre Fingerabdrücke waren jetzt auf der
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