Das Mordhaus (German Edition)
anderes übrig? Man erreicht dich ja nicht. Lebst du überhaupt noch?« Wieder dieser Tonfall. »Jedenfalls rufe ich an, um dich an den Geburtstag unserer Mutter«, das Wort Mutter buchstabierte sie, »zu erinnern, der über morgen, am Freitag, ist. Ich hoffe, du kommst. Ruf mich bitte an, To mas, und sag mir Be scheid, ja?« Die letzten zwei Sätze hatten an Härte verloren und ich konnte die kleine süße Schwester in ihrer Stimme wiederer kennen, die sie einst gewesen war. Ich hatte immer ein gutes Ver hältnis zu ihr gehabt, aber seit dem Unfall war ich ... ja, was ei gentlich? Warum hatte ich mich von den Menschen ferngehal ten, die ich liebte und die mich liebten? Ich hatte einen tiefen Gra ben um mich herum geschaufelt, um mit meinem Kummer allein zu sein. Der heutige Tag würde mir lange in Erinnerung bleiben, da mir einiges klar wurde. Ich hatte mich die letzten sechs Mona te wie ein Arsch benommen. Nur Hermann durfte meine Freund schaft weiter genießen, weil ich ihn brauchte, um arbeiten zu dürfen. Alle anderen hatte ich auf Abstand gehalten. Diana, Kers tin, meine Eltern ... Damit war Schluss! Ich nahm mein Telefon in die Hand und wählte Kerstins Nummer. Es klingelte einmal, zweimal, drei... dann knackte es und eine piepsige Stimme flötete in mein Ohr. »Halloooooo?«
Ich lächelte, es war meine Nichte Lucy. »Hi, hier ist dein On kel.«
»Tooooomas? Oooooh wie fein, wie geht es diiiiir?«
Jemand sollte dem Kind beibringen, nicht immer die Vokale lang zu ziehen, wenn es freudig erregt war. »Ist deine Mama zu Hause?«
»Jaaaaaa, ich hoooooool sie diiiiir.« Kleine tapsende Schritte ent fernten sich.
Der Hörer wurde hochgenommen. »Tomas?«
Lucy hatte anscheinend verraten, wer am Telefon war.
»Hi Kerstin.«
»Wie geht es dir?« Es war unbeschreiblich schön, ihre Stimme zu hören, warum hatte ich mich nicht bei ihr gemeldet? Wovor hatte ich Angst?
»Mir geht es gut. Und bei euch, alles klar?«
»Bei uns läuft es super. Lucy macht sich gut in der Schule.« Sie leg te eine Pause ein. »Tomas, mir tut das alles so leid!«
Davor hatte ich Angst gehabt, vor zu viel Mitleid und dass ich im mer wieder an die Sache erinnert wurde.
Ich atmete tief durch. Ich war mir sicher, darüber sprechen zu kön nen. Hermann schien recht zu behalten. Ich verarbeitete den Tod meiner geliebten Familie endlich.
»Mir tut es auch leid«, sagte ich. »Ich hätte euch nicht darunter lei den lassen sollen. Ich glaube, ich schaffe es langsam, darüber hin wegzukommen. Das Leben muss weitergehen, nicht wahr?«
»Wir haben Verständnis dafür, dass du Zeit für dich brauchtest. Aber wie du gerade sagtest, das Leben muss weitergehen.« Sie legte wieder eine Pause ein. »Kommst du am Freitag zu Mamas Geburts tag?«
Ich ließ eine Weile verstreichen, bevor ich antwortete. »Ich komme gerne. Ab wann geht´s los?«
»Das ist toll! Du glaubst nicht, wie sich alle freuen werden, dich zu sehen. Die Feier fängt um sechzehn Uhr mit Kaffee und Ku chen an. Danach geht die Party richtig los.« Sie räusperte sich. »Mama lässt ausrichten, wenn du eine Begleitung mitbringen willst ...« Sie ver stummte.
Ich überlegte kurz. Wieso eigentlich nicht? »Ja, ich bringe viel leicht jemanden mit.«
Ich hörte Kerstin erleichtert ausatmen. Wenn ich länger über legt hätte, wäre sie gewiss wegen Luftnot in Ohnmacht gefallen.
»Wen denn?«, fragte meine Schwester, sie konnte die Neugier nicht aus ihrer Stimme verbannen.
»Lass dich überraschen. Wir sehen uns am Freitag. Wahrschein lich werde ich es nicht schaffen, pünktlich zu sein, aber ich kom me auf jeden Fall. Ich freu mich. Grüß Björn von mir und gib Lucy einen Kuss.«
Eine neue Pause entstand. »Werde ich machen. Ich freue mich auch. Bis Freitag. Küsschen.«
Sie legte auf. In meinem Körper breitete sich angenehme Wär me aus. Mir wurde klar, wie sehr ich meine Familie in den letzten sechs Monaten vermisst hatte. Es tat gut, mit Kerstin zu telefonie ren. Ich nahm mir fest vor, mich ab jetzt öfter bei ihr zu melden und den al ten Zusammenhalt der Familie Ratz erneut aufleben zu lassen.
Ich warf einen Blick auf die Uhr in der Küche, kurz vor einund zwanzig Uhr. Spät war es noch nicht, ich musste schließlich erst morgen früh um acht im Revier sein. Der Plan für den restlichen Abend war schnell geschmiedet. Ich zog mich, bis auf die Unter hose, aus und legte mich ins Bett. Wenn die Heilung meiner Psy che voran schritt und ich Glück hatte, konnte ich vielleicht
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