Das Mordkreuz
zwischen Leben und Tod.
Was mir bisher nur aus der Distanz bekannt war, saß nun leibhaftig vor mir in dieser Nussschale auf dem Main – unserem ganz persönlichen Todesfluss, dem Styx der griechischen Mythologie, der Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Totenreich des Hades.
Ich konnte nicht länger an mich halten und erzählte ihr meine Lebensgeschichte. Vom ersten Mal, als ich die Weiße Frau im Zimmer meiner Großmutter gesehen hatte, dann am Teich, wo sie meine Schwester geholt und mich verschont hatte, bis hin in die sagenumwobenen Wälder Irlands, wo ich sie ein letztes Mal traf. All das kam mir nun lediglich wie eine Vorbereitung auf das vor, was ich mit dieser Frau noch erleben könnte.
Das war mein innigster Wunsch, und ich hoffte auf ihr Einverständnis.
Sie ließ sich mit der Entscheidung Zeit, schien von meiner Bitte überrascht, zugleich geschmeichelt. Sie berichtete von den widrigen Lebensumständen, in denen sie sich befand, und den Verpflichtungen, die sie einigen Menschen gegenüber hatte. In diesem Geflecht sei für sie eine derart weitreichende Entscheidung schwer zu treffen.
Ich redete auf sie ein, dass sie mit aller Unterstützung von mir rechnen konnte, und verwies auf die einzigartige Chance, die uns geschenkt worden war. Diese Gelegenheit sollte sie nicht ungenutzt lassen, sie käme womöglich nie wieder.
Als sie merkte, wie ernst es mir war, lächelte sie und nahm mich bei der Hand. Wir schworen uns, in den Styx einzutauchen und das Reich der Toten zu erkunden.
27
Das Thermometer zeigte sechsundzwanzig Grad, als Heinlein um sieben Uhr fünfundvierzig das Haus verließ. Für den heutigen Tag hatte der Wetterbericht nochmals Temperaturen jenseits der vierzig Grad angekündigt. Rettungsdienste und Krankenhäuser waren vorgewarnt. Die Medien verbreiteten den Aufruf des Rathauses, das Haus nur zu verlassen, wenn es unbedingt notwendig war. Mit angemessenem Trinkvorrat sollte man bevorzugt abgedunkelte Räume aufsuchen und die Sonne meiden.
Heinleins Wagen rollte ungehindert die Keesburgstraße hinunter, an deren Ende er die Ludwigsbrücke überqueren würde, um dann linksmainig in die Weißenburger Straße zu gelangen, wo die Kriminalpolizei beheimatet war. Mit der freien Fahrt war es spätestens am Friedrich-Ebert-Ring vorbei. Bevor die nächste Hitzewelle über die Stadt herfallen würde, schien ein jeder den Kühlschrank auffüllen zu wollen. Getränkemärkte waren selten so gut besucht gewesen.
Einen schattigen Parkplatz am Talaveraschlösschen zu finden war nicht einfach. Die besten Plätze waren bereits vergeben. Heinlein kapitulierte und stellte den Wagen in die pralle Sonne.
Im Büro war es nicht minder heiß. Sabine, die Sekretärin, hatte alle verfügbaren Ventilatoren aufgestellt, die jedoch nur wenig ausrichten konnten.
«Morgen», sagte Heinlein.
Sabine wünschte Gleiches, Kilian war bereits am Telefon.
Heinlein setzte sich an seinen Arbeitsplatz. Vor ihm lagenmehrere Kurznachrichten, die er zu beantworten hatte. Er schob sie entschieden beiseite.
«Morgen», antwortete Kilian, nachdem er aufgelegt hatte. «Wie geht’s?»
«Gut. So früh und schon so fleißig?»
«Der frühe Vogel fängt den Wurm. Ich habe gerade mit einer Spedition in der Nähe von Bonn telefoniert. Diejenige, für die dieser Frank Wuhlheide gefahren ist.»
«Wuhlheide? Wer soll das sein?»
«Frank Wuhlheide ist der Fahrer des Sattelschleppers, mit dem Rosie Wilde vor neun Monaten den tödlichen Autounfall hatte.»
«Ah, ja. Interessant.»
«Er ist Juniorchef der Spedition gewesen.»
«Gewesen?»
«Ja, er lebt nicht mehr. Er ist vor drei Monaten verstorben.»
Heinlein horchte auf. «Er ist tot?»
«Kam bei einem Motorradunfall ums Leben. Muss eine hässliche Sache gewesen sein. Laut dem Senior soll er auf einer Ölspur ausgerutscht und unter die Leitplanke geraten sein. Die Maschine hat ihm ein Bein abgetrennt und dabei die Hauptschlagader erwischt. Er ist auf der Straße verblutet.»
«Ist darüber hinaus noch etwas bekannt?»
«Nichts Auffälliges. Guter Motorradfahrer, bekannte Strecke, ein Moment der Unachtsamkeit, und schon war’s passiert. Der Unfall geschah auf einer Landstraße. Es hat über eine halbe Stunde gedauert, bis ihn jemand gefunden hat. Doch dann war es schon zu spät für ihn.»
Heinlein grübelte. «Was meinst du dazu?»
«Seltsame Sache. Wir sollten da mal nachhaken.»
«Machst du das?»
«Ja.»
Sabine kam herein. «Will jemand einen Kaffee? Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher